Ich stolperte und stürzte, rappelte mich wieder auf und lief weiter. Ich hörte Männer rufen, von denen mehrere das Lager verließen. Sie kamen durch den Bach gewatet, brachen hinter mir durch das Unterholz. Ich befand mich nun zwischen den Bäumen und war vom Lager aus nicht mehr zu sehen, doch man verfolgte mich. Wie viele Männer mir auf den Fersen waren, wußte ich nicht.
Ich floh voller Entsetzen.
»Lady Sabina!« rief jemand. »Halt! Halt!«
Plötzlich ging mir auf, wie gering die Wahrscheinlichkeit sein mußte, daß eine andere verhüllte freie Frau in der Nähe des Lagers erscheinen würde. Vielleicht war Lady Sabina aus dem Lager geflohen? Vielleicht wollte sie aus irgendeinem Grunde der Gefährtenschaft mit Thandar von Ti aus dem Wege gehen, den sie immerhin noch nie gesehen hatte. Sicher gab es im Lager Männer, die sich auf der Stelle davon hätten überzeugen können, daß sich Lady Sabina noch in ihrem Zelt aufhielt – doch viele andere, die in Sekundenschnelle handeln mußten, konnten sich diese Gewißheit nicht verschaffen. Wenn die Fliehende Lady Sabina war, mußte sie wieder eingefangen werden, denn ihre Flucht hätte die bevorstehende Allianz zwischen der Salerischen Konföderation und der Festung von Saphronicus vereitelt. Außerdem mußte sie schnell wieder ins Lager geschafft werden, denn der Wald war in der Nacht sehr gefährlich. Sie mochte von Sleen angefallen werden oder herumstreichenden Gesetzlosen zum Opfer fallen. Je eher man sie wieder einfing, desto besser. Eine freie Frau rannte durch den nächtlichen Wald – das war ein Rätsel, das schleunigst aufgeklärt werden mußte. Vor wem floh diese Frau? War sie allein?
Ich hatte keine Zeit für lange Überlegungen, warum ich dies zu tun hatte. Ich rannte, so schnell ich konnte.
Die Männer im Lager hatten ebenfalls keine Gele genheit, ihr Vorgehen zu planen. Verständlich, daß viele mir gedankenlos folgten.
Ich eilte durch das Dickicht, hörte Männer hinter mir – wie viele es waren, wußte ich nicht. Ich vermutete, daß von den siebzig bis achtzig Männern im Lager zwanzig oder mehr sofort hinter mir hergestürzt waren. Zugleich war die Aufmerksamkeit aller auf die Seite des Lagers gerichtet, wo man mich zuerst entdeckt hatte.
Stolpernd drängte ich mich zwischen Büschen und Bäumen hindurch. Äste und Dornen zerrissen meine kostbaren Gewänder. Das Knacken im Dickicht hinter mir wurde lauter.
Ich konnte nicht schneller laufen. Das lag nicht nur an den Gewändern. Mir war klar, daß ich den Männern auf keinen Fall entkommen konnte. Sie waren kräftiger und schneller als ich. Die Natur hatte mich nicht dafür vorgesehen, Männern zu entkommen.
Und schon packten rauhe Hände zu. »Halt, Lady!« sagte der Mann.
Keuchend und zitternd stand ich vor ihm.
»Warum bist du geflohen, Lady Sabina?« fragte er. »So etwas ist gefährlich.« Dann rief er: »Ich habe sie!«
Ich versuchte mich loszureißen, vergeblich.
Wenige Sekunden später war ich von weiteren Männern umgeben. Mein Häscher ließ mich los. Ich stand im Kreis der Krieger und sagte kein Wort. Ich neigte den Kopf.
»Ist das Lady Sabina?« wollte eine Stimme wissen.
»Sieh mich an«, forderte ein anderer.
Ich gehorchte ihm nicht sogleich, sondern hielt das Gesicht abgewandt. Da spürte ich Hände auf den Schultern. Finger ergriffen mein Kinn, drehten mir den Kopf herum, drehten ihn ins Mondlicht.
Ich erkannte den Anführer der Soldaten im Lager. Im gleichen Augenblick ging mir der Gedanke durch den Kopf, daß dieser Mann mir nicht hätte folgen dürfen. Eigentlich hätte er im Lager bleiben müssen.
Er starrte mich im schwachen Mondlicht an, versuchte meine Augen zu erkennen. Dann trat er zurück und betrachtete meine Gewänder. »Wer bist du?« fragte er schließlich.
Ich antwortete nicht. Hätte ich den Mund aufgemacht, wäre ihm sofort mein Akzent aufgefallen, meine mangelnde Beherrschung der goreanischen Sprache. Er hätte sofort gewußt, daß ich ein Barbarenmädchen war.
»Du bist nicht Lady Sabina«, stellte er fest. »Wer bist du?«
Ich schwieg.
»Bist du auf der Flucht vor Sklavenhäschern?« wollte er wissen. »Wir sind ehrliche Männer«, fügte er hinzu. »Wir sind keine Sklavenjäger. Du bist bei uns in Sicherheit.«
Mondlicht sickerte durch das Laub.
Mein Schweigen schien ihn zu verärgern. »Möchtest du, daß man dir die Schleier abreißt?« fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
Seine Hände lagen an meinem ersten Schleier, dem Straßenschleier. »Nun?« fragte er.
Ich antwortete nicht.
Da wurde der Schleier emporgehoben.
»Zieh die Handschuhe aus«, forderte er.
Ich gehorchte. Er entriß mir die Handschuhe und warf sie zu Boden.
»Sprich!« verlangte er.
Als ich nichts sagte, zog er den Hausschleier fort. Die übrigen Männer drängten näher heran. Hier ging etwas Unerhörtes vor sich – wenn ich wirklich eine freie Frau gewesen wäre. Die Tat des Mannes kam einer Verletzung meiner Persönlichkeitsrechte gleich. Es war, als wäre er in mein Heim eingedrungen und wollte mir Gewalt antun.
»Wer bist du?« fragte der Mann von neuem. Wie konnte ich ihm sagen, wer ich war? Mein Herr hatte mir noch nicht einmal einen Namen gegeben!
»Der Schleier des Stolzes ist der nächste, wenn du nicht antwortest«, sagte der Mann.
Ich fragte mich, was die Soldaten mit mir anstellen würden, wenn sie entdeckten, daß ich nicht einmal eine freie Frau war. Ich schlug mir den Gedanken aus dem Kopf. Freie Männer reagieren nicht gerade gelassen, wenn eine Kajira sich als freie Frau verkleidet. Sie würden mein Tun wahrscheinlich als ernsten Verstoß ansehen, der fürchterliche Strafen nach sich ziehen konnte.
Der Schleier des Stolzes wurde fortgerissen.
»Vielleicht bist du nun bereit zu sprechen, liebe Lady«, sagte der Anführer der Soldaten, »und uns deinen Namen und deine Heimatstadt zu nennen und uns zu offenbaren, was du hier so spät in der Nacht verloren hast.«
Ich wagte es nicht zu antworten, sondern wandte den Kopf ab, als mir schließlich auch der letzte Schleier abgenommen wurde.
»Sie ist hübsch«, sagte einer der Männer.
»Hoffen wir um deinetwillen«, sagte der Anführer zu mir, »daß du wirklich eine freie Frau bist.«
Ich senkte den Kopf.
»Betrachte dich als meine Gefangene, Lady«, fuhr der Mann fort, packte mich am Handgelenk und zerrte mich mit sich fort.
Minuten später näherten wir uns dem Lager. Ich wurde über den Bach getragen. Zahlreiche Fackeln flackerten. Zwischen den Zelten herrschte große Verwirrung.
Der Soldat, der mich getragen hatte, setzte mich ab.
Ein Mann rannte mit erhobener Fackel herbei. »Die Lady Sabina!« rief er. »Sie ist fort! Man hat sie entführt!«
Mit einem Wutschrei lief der Anführer der Soldaten auf die Zelte zu, gefolgt von seinen Leuten. Ich wurde mitgezerrt und versuchte verzweifelt Schritt zu halten. Wir begaben uns auf direktem Wege zum Zelt der Lady Sabina. Ich wurde hineingeschoben. Ein Mann drehte sich mit bleichem Gesicht zu uns um. »Sie sind einfach hier eingedrungen«, sagte er, »und haben sie entführt!«
Links von uns lagen zwei verwundete Soldaten. Die Sklavenzofen der Lady Sabina kauerten erschrocken im Hintergrund. Eine hielt sich die Schulter, an der sie offenbar eine Prellung erlitten hatte.
»Sie waren dabei«, sagte der Soldat und deutete auf die zitternden Sklavinnen.
»Was war los?« wollte der Anführer wissen.
Eines der Mädchen, die Sklavin mit der verletzten Schulter, ergriff das Wort. Die Rückwand des Zelts war zerschnitten worden. »Ein ganzer Trupp stürmte herein«, sagte sie. »Viele Krieger. Wir versuchten die Herrin zu verteidigen, wurden aber zurückgedrängt. Wir konnten nichts tun!« Sie deutete auf die Rückwand des Zelts. »Sie kamen von dort und sind auch dorthin wieder verschwunden – mit der Herrin!«
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