Ich sah mehr als nur eine Frau, die von der Brücke ins Hafenbecken stürzte und schreiend nach einem der Holzpfähle griff, um sich in Sicherheit zu bringen. Barfüßige Sklavinnen in ihren knappen Kleidern hatten sich unter die freien Frauen gemischt, die im Schutz der Schilde auf den Pier zueilten. Unter ihnen fiel mir eine nackte Frau ins Auge, deren Kopf in einer Haube steckte, die aus einer Männertunika gefertigt worden war. Eine freie Frau zog sie an der Leine um ihren Hals hinter sich her. Ich erkannte sie wieder. Es war die einstige Lady Publia.
Ich hatte den Eindruck, als hätten die Frauen, die den Mut oder den Willen hatten, sich auf die Brücke zu begeben, es mittlerweile getan. Das war auch gut so, denn die Verteidiger wurden zurückgedrängt und hatten die Brücke fast erreicht. Mehr als ein Hai schnellte aus dem Wasser. Die Cosianer setzten nach. Immer mehr von ihnen kamen aus dem Tor oder rutschten die Seile hinunter. Ich gab neue Befehle und schickte Soldaten los, um sie zu überbringen. Die beiden Reihen, die den Frauen und Kindern einen gewissen Schutz gegeben hatten, lösten sich auf, und die Männer zogen sich zurück, um die Flanken zu schützen. Ich stellte mich an den Rand der Brücke und schickte bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Mann nach dem anderen in Richtung Pier. Die meisten von ihnen schützten sich mit ihren Schilden und marschierten in zwei Reihen an den Männern vorbei, die noch immer ihre Stellung zu beiden Seiten der Brücke hielten. Der Strom der Zurückweichenden wurde immer dünner, während die Cosianer rasch näher kamen.
Ich harrte aus, während die Männer von Ar-Station an mir vorbeigingen. Die ganze Zeit über hatte ich mich hinter dem Kampfgeschehen aufgehalten und Befehle erteilt. Jetzt trennten mich nur noch zwei Reihen vom Feind. In der Nähe der Zitadelle ertönten Schreie. Einige der nachrückenden Cosianer hielten sich vom Kampf fern und beschäftigten sich mit den Frauen. »Sie nehmen sich die Frauen!« rief ein Söldner. Er drehte sich um und lief zurück, und ein paar Männer schlossen sich ihm an. Der Angriff geriet einen Augenblick lang ins Stocken. Ich ergriff die Gelegenheit, um weitere Männer nach hinten zu schicken. Darin zog ich mich selbst drei Meter zurück. Schreie ertönten, als die Frauen ergriffen und versklavt wurden. Wieder zögerten die Cosianer. »Sie nehmen sich die Frauen«, rief ich ihnen zu, »und zwar die Leute, die ihre Schwerter nicht einmal blankgezogen haben!«
»Vorwärts!« trieb ein cosischer Offizier die Männer an. »Vorwärts!«
»Ihr bekommt keine Sklavinnen mehr ab!«
»Auf der Pier sind genug Sklavinnen für alle!« rief der Offizier.
»Seht nur, wie sie sich ausziehen, wie eilig sie es haben, versklavt zu werden!« rief ich.
Einige Soldaten in den hinteren Reihen drehten sich um. Ich beorderte weitere Männer zurück.
»Sie sind hübsch«, rief ich. »Sie betteln förmlich um einen Nasenring!«
Es stimmte, viele der Frauen hatten sich die Kleider vom Leib gerissen und knieten nun, einige mit gefalteten, andere mit ausgestreckten Händen, in verschiedenen Posen der Unterwerfung. Zwischen ihnen gingen Männer umher, manche mit blutigen Schwertern. Handgelenke wurden gefesselt.
»Ihr verliert eure Sklavinnen!« rief ich erneut.
»Sie werden später verteilt!« rief der Offizier seinen Männern zu.
»An wen denn?« höhnte ich. »An euch Männer, die an vorderster Front schwitzen, oder an die Händler und Offiziere? Wer sagt euch denn, daß ihr überhaupt welche bekommt? Und wenn ja, habt ihr wirklich die freie Auswahl? Könnt ihr aus den schönsten auswählen? Was ist mit den Hunderten von Frauen, die bereits nach Brundisium und Cos und Tyros unterwegs sind? Hat man die etwa verteilt? Ich glaube, ihr werdet bei Lagerauktionen für den kümmerlichen Rest bieten müssen! War das nicht schon früher so? Ihr kämpft jetzt für Cos, nicht für eine freie Abteilung, deren Hauptmann in eurem Sinne handelt, der dafür sorgt, daß die Schönheiten ein Teil eures Lohns werden!«
»Er sagt die Wahrheit!« grollte ein Mann und zog sich zurück.
»Vorwärts!« brüllte der Offizier.
»Nehmt sie euch, solange ihr die Möglichkeit dazu habt. Sie warten auf euch vor der Zitadelle!«
»Hört nicht auf ihn!« rief der Offizier.
»O weh!« sagte ich. »Diejenigen, die nicht einmal gekämpft haben, nähern sich ihnen schon!«
Die Söldner verharrten unentschlossen.
Nur noch wenige Armbrustbolzen bohrten sich in die Brücke, da die Schützen auf der Brustwehr befürchten mußten, die eigenen Leute zu treffen.
Weitere Schreie ertönten.
»Vorwärts!« rief der Offizier.
Jetzt hörte man auch auf der Brücke das Wimmern und den Protest der Schönheiten, die gefesselt wurden.
»Zurück!« raunte ich den Männern zu, die mich umringten. »Begebt euch hinter mich!« Ich wandte mich wieder den Cosianern zu. »Es sind keine zweihundert mehr übrig, Jungs!« rief ich ihnen zu.
Inzwischen hatten alle Männer aus Ar-Station die Brücke betreten und zogen sich zu beiden Seiten von mir zurück. Ich gab leise Befehle. Diejenigen, die die Hauptlast des Abwehrkampfes getragen hatten, stellten sich hinter die Männer mit den Schilden, die den Rückzug der Frauen gedeckt hatten. Dann erhoben sich die ausgeruhten Männer und rückten zu mir vor.
»Zieht euch zurück!« befahl der cosische Offizier wütend. Die Unschlüssigkeit seiner Männer war ihm genausowenig entgangen wie die Tatsache, daß ich nun von ausgeruhten Kämpfern umringt wurde.
Einige Söldner brachen aus den hinteren Reihen aus und rannten zur Mauer, um sich ihren Teil der Beute zu sichern. Einige der Männer in den vordersten Reihen folgten ihrem Beispiel, zuerst wichen sie zurück, dann drehten sie sich um. Der Offizier versammelte genügend cosische Soldaten um sich, um zu verhindern, daß wir einen Gegenangriff starteten.
»Zieht euch langsam zurück«, sagte ich und setzte mich behutsam rückwärts in Bewegung. Die Cosianer rückten ein paar Meter auf die Brücke vor. Allerdings hatten sie es nicht eilig, sich in unsere Nähe zu wagen.
Wir sahen einen Hai, der die Kaimauer hochschnellte, einen Toten am Bein packte und ins Wasser zog.
»Zieht euch zurück und berichtet Aemilianus, daß die Evakuierung abgeschlossen ist. Er wird wissen, was er zu tun hat.«
Der Mann neben mir erschauderte. Es war kein Zufall, daß ich genau an dieser Stelle stehengeblieben war. Hier befand man sich außerhalb der Reichweite eines Armbrustbeschusses.
»Wir bleiben bei dir«, sagte der junge Schütze. Sein Freund, der andere junge Mann von der Mauer, der nun dessen Schild trug, war an seiner Seite.
»Nein«, sagte ich.
»Ist das ein Befehl, Hauptmann?«
»Ja«, erwiderte ich. »Das ist ein Befehl.«
Er und sein Freund zögerten kurz, dann drehten sie sich um und gingen in Richtung Pier.
»Der Rest von euch zieht sich jetzt ebenfalls zurück«, sagte ich.
»Du kannst die Brücke nicht allein halten«, sagte ein stämmiger, grauhaariger Krieger.
»Geht«, sagte ich. Ich hatte nicht die Absicht, einem von ihnen zu befehlen, an meiner Seite zu bleiben, nicht bei dem, was getan werden mußte. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß Aemilianus anders gehandelt hätte.
»Du wirst erfahrene Schwertkämpfer brauchen«, sagte der Krieger. »Am besten Träger der scharlachroten Tunika.«
»Geht.«
»Vier oder fünf dürften reichen.«
»Einschließlich meiner Person sind wir zu viert«, sagte eine Stimme hinter mir.
»Und ich bin der fünfte«, sagte der Grauhaarige.
Männer eilten über die Brücke.
Ich drehte mich überrascht um.
»Es wäre eine Ehre, in Gesellschaft von Marsias zu sterben«, sagte ein hochgewachsener Mann.
»Ich bin nicht Marsias«, erwiderte ich.
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