»Warum haben Sie sich von Lorimaar getrennt?« fragte Dirk. »Was glauben Sie wohl? Jaan ist dicht vor uns. Ich muß ihn unbedingt vor denen erreichen. Saanel behauptete hartnäckig, der Fluß ließe sich weiter unten leichter durchwaten. Das war meine Chance, um mich von ihnen abzusetzen. Lorimaar wurde nicht einmal argwöhnisch, dafür ist er wohl zu erschöpft. Er denkt nur an das Wild. Seine Verbrennung macht ihm noch zu schaffen, t’Larien! Ich glaube, er sieht Jaan Vikary blutend vor sich liegen und vergißt dabei ganz, wen er überhaupt jagt. Also trennte ich mich von ihnen und ging flußaufwärts. Eine Zeitlang war ich der Überzeugung, ich hätte einen Fehler gemacht. Weiter unten kann man den Fluß tatsächlich leichter überqueren, nicht wahr?« Dirk nickte.
»Wenn Sie Jaan finden wollen, werden Sie eine gehörige Portion Glück brauchen«, warnte Dirk. »Die Braiths sind jetzt wahrscheinlich schon drüben — und sie haben ihre Hunde.«
»Das beunruhigt mich nicht«, sagte Janacek. »Jaan läuft jetzt geradeaus. Und ich weiß etwas, wovon Lorimaar keine Ahnung hat. Ich weiß, wo er hinläuft. Zu einer Höhle, t’Larien. Höhlen haben es meinem teyn schon immer angetan. Als wir noch Jungen in Eisenjade waren, nahm er mich oft auf Erkundungsgänge unter die Erde mit. Er schleppte mich in mehr verlassene Minen, als ich je zu sehen gewünscht hätte, und manchmal stiegen wir auch in die Tiefgewölbe der alten Städte hinab, in die von Dämonen heimgesuchten Ruinen.« Er grinste. »Auch in gesprengte Festhalte drangen wir vor, Behausungen, geschwärzt von alten Hochkriegen und bewohnt von rastlosen Geistern. Jaan Vikary kannte diese Orte alle. Er führte mich zu ihnen und rezitierte ihre Geschichte, endlos lange Erzählungen um Aryn Hoch-Glühstein und Jamis Löwe-Taal und die Menschenfresser des Tiefkohlenhorts. Er konnte vielleicht Geschichten erzählen! Er ließ die Helden und Schrecken wieder aufleben.« Dirk ertappte sich bei einem Lächeln. »Hat er Ihnen Angst eingejagt, Garse?«
Der andere lachte. »Mir Angst eingejagt? Natürlich!
Ich hätte beinahe in die Hose gemacht, aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Wir waren beide noch jung, t’Larien. Später, viel später, war es dann unter den Lameraanbergen, wo er und ich uns gegenseitig Eisen-und-Feuer gelobten.«
»In Ordnung«, sagte Dirk. »Jaan hat also Höhlen gern …«
»Kurz vor Kryne Lamiya hat ein weitverzweigtes Höhlensystem einen Zugang«, sagte Janacek und kehrte zum Thema zurück, »und ein zweiter befindet sich nicht weit von hier. Im ersten Jahr, nachdem wir auf Worlorn landeten, haben wir drei dieses Höhlensystem erforscht.
Ich bin sicher, daß Jaan seine Flucht unterirdisch fortsetzen wird, wenn er dazu in der Lage ist. Wir müssen ihn vorher erwischen.« Er hob sein Gewehr auf.
Dirk nahm seine eigene Waffe. »Im Wald werden Sie ihn nie finden«, sagte er. »Die Würger liefern ausreichend Deckung.« »Ich finde ihn«, sagte Janacek mit unkontrollierter und rauher Stimme. »Denken Sie an unseren Bund aus Eisen-und-Feuer, t’Larien.« »Leeres Eisen mittlerweile«, sagte Dirk und starrte betont auf Janaceks rechtes Handgelenk.
Der Eisenjade grinste sein rüdes, unverkennbares Grinsen. »Nein«, sagte er. Seine Hand fuhr in die Tasche, kam zurück, öffnete sich. Auf seiner Handfläche lag ein Glühstein. Ein einzelnes Juwel, rund und roh facettiert, ungefähr doppelt so groß wie Dirks Flüsterjuwel. Im vollen rötlichen Morgenlicht wirkte es schwarz und nahezu undurchsichtig. Gebannt blickte Dirk darauf, dann berührte er es mit zwei Fingern, so daß es sich leicht über Janaceks Handfläche bewegte. »Es fühlt sich … kalt an«, meinte er.
Janacek runzelte die Stirn. »Unsinn! Es brennt. So wie es sich für Feuer gehört.« Der Glühstein verschwand wieder in seiner Tasche. »Es gibt Geschichten, t’Larien, altkavalarische Gedichte, Sagen, die sie den Fest-haltkindern schon in der Krippe erzählen. Selbst die eyn-kethi kennen diese Geschichten. Sie erzählen sie mit ihren Frauenstimmen, aber Jaan Vikary erzählt sie besser.
Fragen Sie ihn einmal. Fragen Sie ihn, was ein teyn für seinen teyn tun kann. Er wird Zauberhaftes, noch größere Heldentaten und alles überstrahlende Glorien als Antwort vor Ihnen ausbreiten. Ich bin kein Geschichtenerzähler, sonst würden Sie diese Dinge aus meinem Munde hören.
Vielleicht könnten Sie dann ein wenig von dem verstehen, was es heißt, als teyn zu einem Mann zu stehen und einen eisernen Bund zu tragen.« »Vielleicht kann ich das jetzt schon«, sagte Dirk. Danach schwiegen beide lange, während sie, kaum einen halben Meter voneinander entfernt, auf dem moosbewachsenen Felsen standen und sich gegenseitig musterten. Janacek lächelte ein wenig und sah auf Dirk herab. Unter ihnen rauschte unermüdlich der Fluß vorbei und trieb sie mit seinem Geräusch zur Eile.
»Sie sind kein unrettbar schlechter Mann, t’Larien«, sagte Janacek schließlich. »Sie sind schwach, das weiß ich, aber keiner hat Sie je als stark bezeichnet.«
Zuerst kam ihm das wie eine Beleidigung vor, aber der Kavalare schien etwas anderes zu meinen. Nach kurzem Überlegen fand Dirk den Sinn heraus. »Gib einem Ding einen Namen?« meinte er lächelnd. Janacek nickte.
»Hören Sie mir gut zu, Dirk. Ich werde es nicht zweimal erzählen. Ich erinnere mich genau daran, als ich zum ersten Mal von Spottmenschen hörte. Ich war noch ein kleiner Junge in Eisenjade. Eine Frau, eine eyn-keth — Sie würden sie meine Mutter nennen, obwohl diese Feinheiten auf meiner Welt kein Gewicht haben —, war es, die mir die Legende erzählte. Und zwar ganz anders.
Die Spottmenschen, vor denen sie mich warnte, seien keine Dämonen, wie ich später aus dem Mund der Hochleibeigenen erfahren würde. Sie seien nur Menschen, sagte sie, keine fremden Handlanger und auch nicht mit Wermenschen oder Seelensaugern verwandt.
Dennoch seien sie in gewissem Sinne Gestaltwandler, weil sie keine echte Gestalt besäßen. Sie seien Menschen, denen man nicht trauen konnte, Männer, die ihren Kodex vergessen hatten, Männer ohne Bund. Sie existierten nicht wirklich, sie seien menschliche Illusionen ohne Substanz. Verstehen Sie? Die menschliche Substanz — das ist ein Name, ein Bund, ein Versprechen. Es ist im Inneren, und dennoch tragen wir es an unseren Armen.
Das erzählte sie mir. Deshalb nehmen sich Kavalaren teyns, sagte sie, und gehen paarweise in die Fremde — weil… weil die Illusion sich zur Tatsache verhärten kann, wenn man sie in Eisen einbettet.«
»Eine feine Rede, Garse«, sagte Dirk, als der andere geendet hatte. »Aber welche Wirkung übt Silber auf die Seele eines Spottmenschen aus?«
Wie der Schatten einer dahinjagenden Sturmwolke breitete sich Ärger über Janaceks Gesicht aus. Dann begann er zu grinsen. »Ich vergaß Ihre Kimdissi-Verschlagenheit«, sagte er. »Etwas anderes lernte ich ebenfalls in meiner Jugend: Argumentiere niemals mit einem Manipulator.« Er lachte, streckte den Arm aus und nahm Dirks Hand kurz und kräftig in die seine. »Genug«, sagte er. »Wir beide werden niemals übereinkommen, dennoch kann ich immer noch Ihr Freund sein, solange Sie keth sind.«
Dirk war auf seltsame Weise gerührt. Er zuckte die Achseln und sagte: »In Ordnung.«
Aber Garse war schon weg. Er hatte Dirks Hand losgelassen, mit dem Finger das Kontrollgerät in seiner Handfläche bedient, war einen Meter hochgestiegen und befand sich schon mitten über dem Fluß. Weit vorgelehnt, glitt er schnell und geräuschlos durch die Luft.
Sonnenlicht fing sich in seinem langen roten Haar, und seine Kleider schienen blitzend und flackernd die Farben zu wechseln. Fast am anderen Ufer, warf er den Kopf zurück und rief Dirk etwas zu, aber das Rauschen und Donnern des Wassers wischte seine Worte fort, und Dirk vernahm nur den Tonfall - ein wildes, lachendes Frohlocken.
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