Dann kannst du mir sagen, was gestorben ist und was noch lebt!«
Diese kleine Ansprache machte ihn recht zufrieden.
Sicher sah sie ein, dachte er, daß er Jenny viel leichter aufgeben konnte und sie Gwen sein ließ, als daß Jaantony sie von einer betheyn zu seinem weiblichen teyn machen würde. Das lag auf der Hand. Aber sie sah ihn nur an und sagte nichts, bis sie die Schleuse erreichten, in welcher der Gleiter wartete. Sie stiegen aus dem kleinen Fahrzeug. »Als wir vier unseren Aufenthaltsort auf Worlorn festlegten, stimmten Garse und Jaan für Larteyn.
Arkin zog den Zwölften Traum vor. Ich habe mich für keine der beiden Städte entschieden. Auch Challenge mit ihrem elektronischen Trubel paßte mir nicht. Ich habe keine Lust, in einem Ameisenhaufen zu leben. Du willst also wissen, was gestorben ist und was noch lebt? Komm mit, dann zeige ich dir meine Stadt.«
Sie waren wieder draußen. Während die kalte Nachtluft sie erschaudern ließ und Challenges leuchtender Turm hinter ihnen entschwand, saß Gwen mit zusammengekniffenen Lippen hinter den Armaturen …
Nun breitete sich wieder tiefe Dunkelheit aus, wie in der Nacht, als die Schaudern der Vergessenen Feinde Dirk nach Worlorn gebracht hatte. Am Himmel zeigte sich nur ein Dutzend Sterne, von denen die meisten noch von sich voranwälzenden Wolken verdeckt wurden. Alle Sonnen waren untergegangen.
Die Stadt der Nacht war groß und sah verschachtelt aus.
Nur wenige Lichter durchbrachen die Dunkelheit, in die sie gebettet war wie ein bleicher Edelstein auf weichem, schwarzem Filz. Als einzige unter den Städten befand sie sich in der Wildnis jenseits der Bergkette, und dort gehörte sie auch hin, in die Wälder der Würger, Geisterbäume und Blauen Witwer. Aus der Schwärze des Waldes wuchsen ihre schlanken, weißen Türme gespenstisch den Sternen entgegen, durch graziös gewundene Brücken, die wie gefrorene Spinnennetze glitzerten, miteinander verbunden. Mitten im Netzwerk der Kanäle, in deren Wasser sich das Licht der Türme und das ferne Funkeln gelegentlich sichtbarer Sterne brach, hielten flache Kuppelbauten ihre einsame Nachtwache. Rings um die Stadt befand sich eine Anzahl seltsamer Gebäude, dürren, knochigen Händen gleich, die in ihrer Verzweiflung den Himmel zu fassen versuchten.
Die Bäume, die man hier erblickte, kamen ohne Ausnahme von den Außenwelten, Gras gab es überhaupt nicht, nur dicke Teppiche trübe fluoreszierenden Mooses.
Und die Stadt sang.
Nie hatte Dirk eine solche Musik gehört. Sie klang unheimlich, zügellos, beinahe unmenschlich und schwoll ständig an und ab. Es war eine düstere Symphonie des Nichts, von sternenlosen Nächten und abgründigen Träumen. Sie setzte sich zusammen aus Klagelauten, Flüstern, Heulen und einem eigentümlich tiefen Ton, der nur als Inbegriff der Traurigkeit gedeutet werden konnte.
Trotz alledem — es war Musik.
Verwundert blickte Dirk zu Gwen hinüber. »Wie ist das möglich?« Während Gwen flog, hatte sie hingebungsvoll den fremdartigen Tönen gelauscht, aber seine Frage riß sie aus ihren Gedanken, und sie lächelte schwach. »Dunkeldämmerung hat diese Stadt erbaut, und die Dunklinge sind seltsame Leute. In den Bergen gibt es einen tiefen Einschnitt, den ihre Wettermacher sich zunutze machten. Jetzt bläst der Wind genau hindurch. In der Stadt bauten sie Spiraltürme, an deren Spitzen sich Löcher befinden. Der Wind spielt die Stadt wie ein Instrument. Dasselbe Stück, immer wieder. Die Wetterkontrollmechanismen verändern die Windrichtung, und mit jeder Änderung beginnen einige Türme ihre| Töne zu pfeifen, während andere verstummen. Die Musik — diese Symphonie — wurde vor Jahrhunderten auf Dunkeldämmerung von einer Komponistin namens Lamiya-Bailis geschrieben. Ein Computer spielt sie, sagt man, indem er die Windmaschinen betreibt. Das seltsame daran ist, daß die Dunklinge eigentlich niemals Computer benutzen und von Technik nur sehr wenig verstehen. Während der Tage des Festivals war auch noch eine andere Geschichte in aller Munde. Eine Art Legende, kann man sagen.
Darin hieß es, daß Dunkeldämmerung eine Welt sei, deren Bewohner gefährlich nahe am Rande geistiger Gesundheit leben. Die Musik von Lamiya-Bailis, der größten Träumerin unter den Dunklingen, war es schließlich, welche die gesamte Kultur in Wahn und Verzweiflung stürzte. Als Strafe, so sagte man, wurde ihr Gehirn am Leben erhalten und tief unter den Bergen von Worlorn an die Windmaschinen angeschlossen, wo es immer und immer wieder sein eigenes Meisterwerk spielen muß.« Sie fröstelte. »Oder wenigstens so lange, bis die Atmosphäre gefriert. Diesen Vorgang können selbst die Wetterwächter von Dunkeldämmerung nicht aufhalten.«
»Die Musik ist…« Dirk fand keine Worte, so sehr war er in das schaurige Lied vertieft. »Sie trifft es genau«, sagte er nach einer Weile. »Worlorns Hymne!«
»Jetzt ist sie zur Musik des Planeten geworden«, sagte Gwen. »Das Lied handelt vom Zwielicht und der anbrechenden Nacht, nach der es kein Morgengrauen mehr gibt, niemals wieder. Ein Lied des Endes. Zur Glanzzeit des Planeten war das Lied fehl am Platze.
Kryne Lamiya — so heißt diese Stadt, Kryne Lamiya, die man oft auch Sirenenstadt nannte, so wie Larteyn als Feuerfestung bezeichnet wurde. Nun, sie war bei den Touristen nicht sehr beliebt. Sie sieht sehr groß aus, ist aber bei genauerer Betrachtung viel kleiner. Sie wurde nur für hunderttausend Einwohner gebaut und beherbergte davon nie mehr als den vierten Teil. Wie Dunkeldämmerung selbst, nehme ich an. Wie viele Reisende machen schon einen Abstecher nach Dunkeldämmerung am Rande des Großen Schwarzen Meeres? Und wie viele davon kommen im Winter, wenn der Himmel jener Welt bar jeder Sterne ist und man nur das Licht einiger weit entfernter Galaxien wahrnimmt?
Sehr wenige. Man muß schon ein Sonderling sein. Für Kryne Lamiya trifft dasselbe zu. Die Leute wurden durch das Lied beunruhigt. Es hörte nie auf. Die Dunklinge hielten es nicht für nötig, die Schlafzimmer schalldicht zu machen.« Dirk schwieg. Er starrte auf die schlanken Spiraltürmchen und lauschte ihrem Singsang.
»Willst du landen?« fragte Gwen.
Er nickte, und sie begann, die Maschine hinunterzudrücken. An einem der Türme fanden sie eine offene Landenische. Im Gegensatz zu den Schleusen in Challenge und Zwölfter Traum war diese nicht völlig leer. Zwei andere Luftwagen, ein kurzflügeliger, roter Sportgleiter und eine winzige, schwarzsilberne Träne, standen in der Nähe herum. Beide Fahrzeuge waren schon vor langer Zeit verlassen worden. Staub hatte sich auf den Karosserien und Windschutzscheiben angesammelt, und im Inneren des roten Sportgleiters war die Polsterung in Auflösung begriffen. Neugierig, wie er war, probierte Dirk beide Fahrzeuge aus. Der Sportgleiter gab keinen Ton von sich. Seine Aggregate brachten keine Leistung mehr, sie waren schon lange ausgebrannt. Aber die kleine Träne wurde unter seinem Griff warm, die Armaturen leuchteten auf und zeigten noch geringe Energiereserven an. Der riesige, graue Manta von Hoch Kavalaan war größer und schwerer als die beiden herrenlosen Wracks zusammen.
Sie verließen die Landeschleuse und kamen in einen langen Gang, in dem grauweiße Wandlichtbilder im Einklang mit der allgegenwärtigen Musik waberten und in Kaskaden zerplatzten. Dann betraten sie einen Balkon, den sie von draußen ausgemacht hatten. Im Freien war die Musik geradezu überwältigend. Sie rief sie mit unirdischen Stimmen, berührte sie und spielte anschwellend und lockend in ihrem Haar. Dirk nahm Gwen bei der Hand und starrte blind über Türme, Kuppeln und Kanäle hinweg auf den Wald und die Berge dahinter. Während er so verharrte, schien die Windmusik an ihm zu zerren. Sie sprach zu ihm mit einschmeichelnder Stimme, wollte ihn zum Hin-abspringen animieren, wie es schien — um allem ein Ende zu setzen, dieser dummen, unwürdigen und in höchstem Maße lächerlichen Sinnlosigkeit, die er sein Leben nannte.
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