Weda hatte einen Fehler begangen, wie er vielen Menschen unterlief, nämlich zu glauben, dass die Wunden des Herzens gleichzeitig mit den Verletzungen des Körpers heilen. Keine Spur! Seelische Wunden können noch lange tief in einem gesunden Körper weiterschwären und plötzlich, mitunter aus unbedeutenden Gründen, wieder aufbrechen. So war es auch bei Nisa: Fünf Jahre lang war sie, wenn auch völlig bewusstlos, gelähmt gewesen, und diese Lähmung hatte jeder Zelle im Körper ihren Stempel aufgedrückt und darin die Erinnerung an die entsetzliche Begegnung mit dem Kreuz zurückgelassen, jenem schrecklichen Wesen, das Erg Noor beinahe getötet hätte.
Nisa erriet Wedas Gedankengänge und sagte mit dumpfer Stimme:
„Seitdem ich auf dem Eisenstern war, verfolgt mich ein eigenartiges Gefühl. Irgendwo in meinem Herzen herrscht eine beunruhigende Leere. Sie ist immer da, daneben kann ich mich freuen und mich stark fühlen, aber dieses Gefühl verschwindet deshalb nicht. Ich kann nur dagegen ankämpfen, indem ich mich zusammennehme und mich ihm nicht überlasse… Jetzt weiß ich, was der Kosmos für einen einsamen Menschen bedeutet, und verneige mich noch tiefer vor den ersten Helden der Sternenschifffahrt!“
„Ich glaube, ich verstehe Sie“, antwortete Weda. „Ich war einmal auf einer kleinen Inseln Polynesiens, mitten im Ozean. Dort überkommt einen in Stunden der Einsamkeit angesichts des Meeres eine unendliche Traurigkeit, gleich einem nostalgischen Lied, das sich in der Monotonie weiter Fernen verliert. Vielleicht ist es eine Erinnerung aus der fernen Vergangenheit, eine Erinnerung an die urzeitliche Einsamkeit seines Bewusstseins, die dem Menschen sagt, wie schwach und hilflos er einst in dem engen Gefängnis seiner Seele war. Die einzige Rettung ist gemeinsame Arbeit und gemeinsames Nachdenken. Kommt dann endlich ein Schiff, noch kleiner als die Insel, scheint der unermessliche Ozean schlagartig verändert. Eine Handvoll Kameraden und ein Schiff, das ist bereits eine Welt für sich, die erreichbaren und ihr angemessenen Fernen zustrebt. Und so ist es auch bei einem kosmischen Schiff, einem Sternenschiff. Dort sind Sie mit verwegenen und starken Kameraden zusammen! Doch allein im Kosmos zu sein“, Weda schauerte es. „Das kann, glaube ich, kein Mensch ertragen.“
Nisa schmiegte sich noch fester an Weda.
„Wie recht Sie haben, Weda! Deshalb möchte ich auch alles auf einmal…“
„Nisa, ich habe Sie sehr lieb gewonnen. Jetzt bin ich eher einverstanden mit Ihrem Entschluss… Erst schien er mir vollkommen verrückt.“
Nisa drückte, ohne ein Wort zu sagen, Wedas Hand und presste die Nase an die vom Wind kalte Wange der Freundin.
„Aber werden Sie auch durchhalten, Nisa? Es ist doch so unglaublich schwer!“
„Was soll denn so schwer sein, Weda?“, fragte Erg Noor, der ihre letzten Worte gehört hatte. „Haben Sie sich mit Dar Weter abgesprochen? Er versucht schon eine halbe Stunde lang mich zu überreden, meine Erfahrung als Sternfahrer an die Jugend weiterzugeben, anstatt eine Reise anzutreten, von der man nicht zurückkehrt.“
„Und hat er Sie überreden können?“
„Nein. Meine Erfahrung in der Sternenschifffahrt wird jetzt noch notwendiger gebraucht, um die Lebed an ihr Ziel zu bringen, dorthin…“ Erg Noor zeigte auf den hellen, sternlosen Himmel, wo unterhalb der Kleinen Magellanschen Wolke, unter dem Tukan und der Hydra der helle Achernar leuchten musste. „… auf einer Bahn, die noch kein Schiff der Erde oder des Rings geflogen ist.“
Als Erg Noor das letzte Wort aussprach, leuchteten hinter seinem Rücken die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf und fegten mit einem Male alles Geheimnisvolle der weißen Morgendämmerung hinweg.
Die vier Freunde hatten das Meer erreicht. Eine kalte Brise wehte ihnen entgegen, und schwere, schaumlose Wellen des stürmischen antarktischen Ozeans brandeten gegen das leicht abfallende Ufer vor ihnen. Weda Kong blickte neugierig auf das stahlblaue Wasser, das in der Tiefe rasch dunkel wurde und unter den Strahlen der tief stehenden Sonne den lila Farbton von Eis annahm.
Nisa Krit stand neben ihr in einem blauen Pelzmantel und gleichfarbiger runder Pelzmütze, unter der das dichte, dunkelrote Haar hervorquoll. Wie üblich warf das Mädchen ihren Kopf leicht in den Nacken. Dar Weters Blick, der sich erst an ihr weidete, wurde plötzlich finster.
„Weter, gefällt Ihnen Nisa nicht?“, rief Weda Kong mit übertriebener Empörung aus.
„Sie wissen, dass ich von ihr entzückt bin“, antwortete Dar Weter grimmig. „Doch in diesem Augenblick erschien sie mir so klein und zerbrechlich im Vergleich zu…“
„Zu dem, was mich erwartet?“, fragte Nisa herausfordernd. „Verlegen Sie jetzt Ihren Angriff von Erg auf mich…?“
„Daran habe ich überhaupt nicht gedacht“, entgegnete Dar Weter ernst. „Mein Unmut ist etwas ganz Natürliches. Ein wunderschönes Geschöpf meiner lieben Erde soll in den unermesslichen Tiefen des Kosmos mit seiner Finsternis und schrecklichen Kälte verschwinden. Das ist kein Mitleid, Nisa, sondern Kummer über einen Verlust.“
„Es geht Ihnen genauso wie mir“, stimmte Weda zu. „Nisa, ein heller Funken des Lebens und der eisige, leblose Raum!“
„Sehe ich aus wie eine zerbrechliche Blume?“, fragte Nisa. Ein merkwürdiger Ton in ihrer Stimme ließ Weda aufmerken.
„Wer liebt die Freude am Kampf gegen die Kälte mehr als ich?“ Und das Mädchen riss sich die Mütze vom Kopf, schüttete ihre roten Locken aus und warf auch den Pelzmantel fort.
„Was machen Sie da, Nisa?“, fragte Weda Kong, die als Erste ihre Absicht erriet. Sie stürzte auf die Astronavigatorin zu.
Doch Nisa sprang bereits auf einen vorstehenden Felsen, zog sich rasch aus und warf Weda ihre Kleider zu.
Die kalten Wellen schlossen sich über Nisa, und Weda zitterte, während sie sich das Gefühl eines solchen Bades vorzustellen versuchte. Nisa schwamm gleichmäßig durchs Wasser, durchschnitt die Wellen mit starken Armschlägen. Als sie auf den Kamm einer Welle gehoben wurde, winkte sie den an der Küste Zurückgebliebenen zu und forderte sie auf, ihr nachzufolgen.
Weda Kong sah ihr begeistert zu.
„Weter, Nisa ist nicht Ergs Freundin, sondern eher die eines Eisbären. Sie, als Mensch des Nordens, werden sich wohl nicht geschlagen geben wollen?“
„Ich stamme zwar aus dem Norden, ziehe aber persönlich warmes Wasser vor“, sagte Dar Weter kläglich und näherte sich nur widerwillig den eisigen Spritzern der Meeresbrandung.
Dann zog er sich aus, berührte das Wasser mit dem Fuß und stürzte sich jauchzend einer stahlblauen Woge entgegen. Mit drei gewaltigen Schlägen erreichte er den Kamm einer Welle und ging in der dunklen Tiefe der nächsten unter. Nur jahrelanges Training und ganzjähriges Baden ermöglichten es ihm, seinen Ruf zu retten. Plötzlich stockte sein Atem, und rote Ringe begannen vor seinen Augen zu tanzen. Mit ein paar hastigen Tauchern und Sprüngen bekam er wieder Luft. Dann schwamm Dar Weter zitternd und blau vor Kälte ans Ufer und rannte zusammen mit Nisa den Hang hinauf. Einige Minuten später genossen sie bereits die wohltuende Wärme ihrer Pelzmäntel und — stiefel. Auf einmal schien der eisige Wind sogar einen Hauch der Korallenmeere mit sich zu bringen.
„Je länger ich Sie kenne, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass sich Erg Noor bei seiner Wahl nicht geirrt hat“, flüsterte Weda. „Sie werden ihn wie kein anderer in schweren Stunden aufmuntern, erfreuen und seine Kräfte schonen können…“
Nisas Wangen, die jeglicher Sonnenbräune entbehrten, überzogen sich mit einem satten Rot.
Beim Frühstück auf der hohen, durch den Wind vibrierenden Kristallterrasse begegnete Weda einige Male dem nachdenklichen und zärtlichen Blick des Mädchens. Alle vier waren schweigsam, wie es Menschen vor einer langen Trennung sind.
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