»Schon gut, ich brauche deine Beschreibung nicht. Was ist denn mit ihm?«
»Er fragte nach dem Protonensynchrotron.«
Neville fuhr auf, ein wenig schwankend, wie es nach einer schnellen Bewegung in der niedrigen Schwerkraft fast unvermeidlich war. »Was wollte er denn darüber wissen?«
»Nichts. Warum bist du so aufgeregt? Du hast mich gebeten, dich über alles zu unterrichten, was mir bei den Touristen irgendwie auffällt — und das schien mir absonderlich genug. Bisher hat sich noch keiner nach dem Protonensynchrotron erkundigt.«
»Schon gut.« Er schwieg einen Augenblick und fuhr mit normaler Stimme fort. »Warum interessiert er sich für das Synchrotron?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Selene. »Er fragte mich nur, ob er es sehen könnte. Vielleicht ist er ein Tourist, der sich zufällig auch für die Wissenschaften interessiert. Kann genausogut sein, daß er nur mein Interesse erwecken wollte.«
»Nehmen wir einmal an, das hat er geschafft. Wie heißt er?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gefragt.«
»Warum nicht?«
»Weil ich kein Interesse an ihm habe. Wie hättest du’s gern? Außerdem zeigt seine Frage, daß er wirklich Tourist ist. Als Physiker würde er doch nicht fragen — er wäre längst dort.«
»Meine liebe Selene«, sagte Neville. »Laß dir mal etwas erklären. Unter den gegebenen Umständen ist jeder Bursche, der das Protonensynchrotron sehen möchte, interessant genug, daß wir mehr über ihn wissen möchten. Und warum fragt er ausgerechnet dich?« Mit schnellen Schritten lief er ein paarmal hin und her, als wollte er ein wenig Energie abreagieren. Dann fuhr er fort: »Du bist doch Expertin für diesen Unsinn. Findest du ihn interessant?«
»Sexuell?«
»Du weißt, was ich meine. Laß deine Spielchen, Selene!«
Selene antwortete mit deutlichem Widerstreben: »Er ist interessant, sogar irgendwie aufregend. Ich weiß nicht, warum. Er hat überhaupt nichts gesagt oder getan.«
»Interessant und aufreizend, soso? Dann triffst du dich noch einmal mit ihm!«
»Um was zu tun?«
»Wie soll ich das wissen? Das ist deine Aufgabe. Stell seinen Namen fest. Versuch alles über ihn herauszubekommen. Du hast doch Köpfchen, also übe es zur Abwechslung mal ein wenig in nützlicher Neugier.«
»Na schön«, sagte sie, »Befehl von ganz oben. Schon gut, schon gut.
Schon in der Größe unterschied sich die Unterkunft des Hochkommissars nicht von den Wohnräumen anderer Lunarier. Es gab einfach keinen Platz auf dem Mond, nicht einmal für die terrestrischen Abgesandten; keine luxuriöse Verschwendung, nicht einmal als Geste gegenüber dem Heimatplaneten. Auch hätte sich selbst für die Größten der Erdgeschichte jene überwältigend klare Tatsache nicht ändern lassen — daß der Mond eine Untergrundwelt mit sehr niedriger Schwerkraft war.
»Der Mensch ist noch immer das Ergebnis seiner Umgebung«, seufzte Luis Montez. »Ich bin nun zwei Jahre auf dem Mond gewesen, und es hat Augenblicke gegeben, da ich gern länger geblieben wäre, aber… Die Jahre warten nicht. Ich habe gerade meinen vierzigsten Geburtstag hinter mir, und wenn ich überhaupt wieder auf die Erde zurück will, muß es jetzt geschehen. Warte ich noch länger, gewöhne ich mich nicht wieder an die volle Schwerkraft da unten.«
Konrad Gottstein war erst vierunddreißig und sah womöglich noch jünger aus. Er hatte ein breites, rundes, großflächiges Gesicht — die Art Gesicht, die man bei den Lunariern nicht zu sehen bekam, wie sie hier aber auf jeder Erdchen-Karikatur zu sehen war. Er war nicht sonderlich füllig von Gestalt — es hatte keinen Sinn, schwere Männer auf den Mond zu schicken, und sein Kopf machte den Eindruck, als wäre er zu groß für den Körper.
Er sagte (und er sprach die Planetarische Standardsprache mit einem merklich anderen Akzent als Montez): »Das klingt ja fast wie eine Rechtfertigung.«
»Ist es auch«, erwiderte Montez. Während Gottsteins Gesicht durch und durch gutmütig wirkte, gewann Montez’ Gesicht mit seinen langen dünnen Linien fast tragikomische Züge. »Und zwar in doppelter Hinsicht. Ich bedaure es, den Mond zu verlassen, da er eine attraktive, erregende Welt ist. Und ich bedaure mein Bedauern; ich bin beschämt, daß es mir widerstrebt, die Bürde der Erde wieder auf mich zu nehmen — die Schwerkraft und alles andere.«
»Ja, ich kann mir vorstellen, daß es nicht leicht ist, die anderen fünf Sechstel wieder hinzunehmen. Ich bin erst ein paar Tage auf dem Mond, und das eine Sechstel gefällt mir schon ausgezeichnet.«
»Das wird sich ändern, wenn die Verstopfung einsetzt und Sie von Rizinus leben«, seufzte Montez, »aber es geht vorbei… Und bilden Sie sich bitte nicht ein, die Gazelle spielen zu können, nur weil Ihnen so leichtfüßig zumute ist. Die Sache ist eine Kunst.«
»Das habe ich schon mitbekommen.«
»Sie glauben, daß Sie es mitbekommen haben, Gottstein. Haben Sie schon einmal ein Känguruh laufen sehen?«
»Im Fernsehen.«
»Das gibt Ihnen noch nicht das richtige Gefühl. Sie müssen es selbst versuchen. Das ist nämlich die beste Art, eine ebene Mondfläche mit größtmöglicher Geschwindigkeit zu überqueren. Die Füße bewegen sich gemeinsam nach hinten und stoßen Sie hoch — etwas, das auf der Erde ein einfacher Sprung wäre. Während Sie in der Luft sind, bewegen sich die Beine nach vorn, fahren aber schon wieder nach hinten, ehe sie den Boden berühren, und halten Sie auf diese Weise oben — und so weiter. Bei der niedrigen Schwerkraft erscheint der Vorgang sehr langsam, aber mit jedem Sprung legt man über sechs Meter zurück, und es ist nur sehr wenig Muskelkraft erforderlich, um den Körper in der Luft zu halten — wenn es da Luft gäbe. Es ist, als ob man fliegt…«
»Haben Sie’s schon versucht? Können Sie es?«
»Ich habe es versucht, aber im Grunde bringt es kein Erdenbürger fertig. Ich habe bis zu fünf Sprünge hintereinander geschafft was ausreicht, um einen auf den Geschmack zu bringen, aber dann kommt die unweigerliche Fehlberechnung, eine Nachlässigkeit des körperlichen Ablaufs, und man überschlägt sich und gleitet einige hundert Meter weit dahin. Aber die Lunarier sind höflich und lachen Sie niemals aus. Natürlich fällt ihnen selbst das Laufen leicht. Sie erlernen es mühelos schon im jüngsten Alter.«
»Es ist ja auch ihre Welt«, sagte Gottstein und lachte leise. »Überlegen Sie nur mal, wie sie sich auf der Erde anstellen würden.«
»Undenkbar. Sie können nicht auf die Erde. Das mag ein Vorteil für uns sein. Wir können uns sowohl auf dem Mond als auch auf der Erde bewegen. Sie sind an den Mond gefesselt. Wir vergessen das leicht, weil wir die Lunarier oft mit den Immis verwechseln.«
»Womit?«
»So werden hier die Immigranten von der Erde genannt; jene Menschen, die mehr oder weniger ständig auf dem Mond leben, die jedoch auf der Erde geboren und großgezogen wurden. Die Immigranten können natürlich zur Erde zurückkehren, aber die richtigen Lunarier haben weder die Knochen noch die Muskeln für die irdische Schwerkraft. In der Geschichte des Mondes hat es darum schon einige Tragödien gegeben.«
»Oh?«
»Ja. Leute, die mit ihren mondgeborenen Kindern zurückkehrten. Wir hatten diese Opfer schnell vergessen. Wir hatten auf der Erde immerhin unsere Krise, und angesichts der gewaltigen Verluste im späten zwanzigsten Jahrhundert und in den folgenden Jahren waren ein paar sterbende Kinder nicht weiter wichtig. Hier auf dem Mond jedoch erinnert man sich an jeden Lunarier, der der Erdschwerkraft zum Opfer fiel.«
Gottstein runzelte die Stirn. »Ich glaubte, ich wäre wirklich gut vorbereitet, aber es sieht so aus, als hätte ich noch viel zu lernen.«
»Auf der Erde läßt sich unmöglich alles über den Mond erfahren. Ich habe Ihnen daher einen vollständigen Bericht hinterlassen — wie es auch schon mein Vorgänger tat. Sie werden den Mond bestimmt faszinierend finden und in mancher Beziehung auch unmöglich. Ich bezweifle, daß Sie auf der Erde schon mit lunarischer Nahrung in Berührung gekommen sind; wenn Sie also nur durch Beschreibungen darauf vorbereitet sind, stehen Ihnen noch einige Überraschungen bevor… Aber Sie werden es lernen müssen, das Zeug zu mögen. Es macht nur böses Blut, wenn man Dinge von der Erde heraufbringen läßt. Wir müssen schon mit den örtlichen Lebensmitteln und Getränken vorliebnehmen.«
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