»Welche Zeit?« Da der Moment nun gekommen war, zeigte sich Dua bewußt uneinsichtig. Wenn sie die Wahrheit nicht wahrhaben wollte, gab es sie auch nicht. (Diese Angewohnheit hatte sie auch später nicht abgelegt. Odeen sagte, alle Gefühlslinge wären so — mit der erhabenen Stimme, die er manchmal an sich hatte, wenn ihm die Bedeutung seiner Existenz als Denkling besonders zu Kopf gestiegen war.)
Ihr Elterling hatte gesagt: »Ich muß weiterziehen. Ich kann nicht bei dir bleiben.« Dann stand er einfach dort und schaute sie an, und sie wußte nichts zu erwidern.
»Du sagst es den anderen«, fügte er hinzu.
»Warum?« Dua wandte sich widerspenstig ab, ihre Umrisse wurden immer undeutlicher, und sie versuchte sich aufzulösen. Sie wollte sich völlig auflösen, und das konnte sie natürlich nicht. Nach einer Weile tat es weh, und sie verkrampfte sich, und schnell verhärtete sie sich wieder. Ihr Elterling machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu schelten und ihr zu sagen, daß es eine Schande wäre, wenn jemand sie so ausgestreckt sähe.
»Denen ist es doch egal«, sagte sie und bereute sofort, daß sie ihren Elterling damit verletzt hatte. Er nannte die anderen noch immer »Klein-Links« und »Klein-Rechts«, aber Klein-Links steckte bereits in seinem Studium, und Klein-Rechts redete schon davon, eine Triade zu bilden. Dua war die einzige der drei, die noch immer das Gefühl hatte… Nun, sie war ja auch die Jüngste. Das waren Gefühlslinge immer, und bei ihnen war alles anders.
»Du wirst es ihnen trotzdem sagen«, beharrte ihr Elterling. Und sie standen sich gegenüber und sahen sich an.
Sie wollte es ihnen nicht sagen. Sie waren ihr überhaupt nicht mehr nahe. Ganz früher, als Kinder, war das anders gewesen. Damals konnten sie sich kaum auseinanderhalten; der Links-Bruder unterschied sich nicht vom Rechts-Bruder und auch nicht von der Mitt-Schwester. Sie waren alle nebelhaft und verbanden sich miteinander und rollten durcheinander und versteckten sich in den Wänden.
Niemand hatte etwas dagegen, solange sie noch klein waren; niemand von den Erwachsenen. Aber dann wurden die Brüder dick und vernünftig und hielten auf Abstand. Und als sie sich bei ihrem Elterling darüber beschwerte, bekam sie nur leise zur Antwort: »Du bist zu alt fürs Verdünnen, Dua.«
Sie versuchte das zu ignorieren, aber Links-Bruder wich immer wieder vor ihr zurück und sagte: »Kuschel dich nicht so heran; ich habe keine Zeit für dich.« Und Rechts-Bruder blieb die ganze Zeit hart und wurde mürrisch und schweigsam. Damals verstand sie das noch nicht, und Pappie hatte es ihr auch nicht begreiflich machen können. Von Zeit zu Zeit sagte er — wie eine Lektion, die er einmal gelernt hatte: »Linke sind Denklinge, Dua. Rechte sind Elterlinge. Sie gehen eigene Wege.«
Und diese Wege gefielen ihr nicht. Sie waren keine Kinder mehr, während Dua Kind geblieben war, und so trieb sie sich bald mit den anderen Gefühlslingen herum. Hier führten alle die gleichen Klagen über ihre Brüder. Alle redeten von künftigen Triaden. Alle breiteten sich in der Sonne aus und aßen. Und sie wurden von Tag zu Tag ähnlicher und erzählten immer wieder die gleichen Dinge.
Und Dua begann sie zu verachten und hielt sich möglichst abseits, so daß die anderen sie bald »LinksG« nannten. (Schon sehr lange hatte sie diesen Ruf nicht mehr gehört, aber sie konnte nie daran denken, ohne sich an die dünnen, rauhen Stimmen zu erinnern, die mit halbblöder Beharrlichkeit hinter ihr her schrien, weil sie wußten, daß es weh tat.)
Doch ihr Elterling verlor nicht das Interesse an ihr, auch als ihm klarwerden mußte, daß alle anderen sie auslachten. Auf seine ungeschickte Art versuchte er sie vor ihnen abzuschirmen. Obwohl er die Oberfläche haßte, folgte er ihr manchmal hinauf, um sich zu überzeugen, daß ihr nichts geschah.
Sie traf ihn einmal im Gespräch mit einem Hartling. Sich mit einem Hartling zu unterhalten, fiel einem Elterling nicht leicht; obwohl sie noch ziemlich jung war, wußte sie das. Hartlinge sprachen nur mit Denklingen.
Sie war ganz verängstigt und huschte davon, doch sie hatte ihren Elterling noch sagen hören: »Ich passe auf sie auf, HartHerr.«
War es möglich, daß sich der Hartling nach ihr erkundigt hatte? Nach ihrer Absonderlichkeit vielleicht. Aber ihr Elterling hatte gar keinen unterwürfigen Eindruck gemacht. Sogar mit dem Hartling hatte er über seine Sorge um sie gesprochen. Dua verspürte Stolz.
Doch jetzt verließ sie ihr Elterling, und plötzlich hatte die langersehnte Unabhängigkeit jeden Reiz verloren und zeigte den spitzen Stachel der Einsamkeit. »Aber warum mußt du weiterziehen?« fragte sie.
»Ich muß einfach, kleiner Mitt-Liebling.«
Er mußte es. Sie wußte das. Früher oder später war es für jeden soweit. Auch für sie würde der Tag kommen, da sie seufzen und sagen mußte: »Ich muß gehen.«
»Aber wieso weißt du, wann du weiterziehen mußt? Wenn du dir die Zeit aussuchen kannst, warum wählst du dann nicht eine andere und bleibst noch?«
»Dein Links-Vater hat es beschlossen«, erwiderte er. »Die Triade muß tun, was er sagt.«
»Warum muß sie tun, was er sagt?« Sie sah ihren LinksVater oder ihre Mitt-Mutter kaum noch. Sie waren nicht mehr wichtig. Nur ihr Rechts-Vater, ihr Elterling, ihr Pappie, der dort untersetzt, mit glatter Oberfläche vor ihr stand. Er war nicht so rundlich wie ein Denkling oder so zittrig uneben wie ein Gefühlsling, und sie wußte immer vorherzusagen, was er gleich sagen würde. Fast immer.
Sie war sicher, daß er jetzt sagen würde: »Das läßt sich einem kleinen Gefühlsling nicht erklären.«
Und er sagte es.
Dua erwiderte in plötzlichem Schmerz: »Du wirst mir fehlen. Ich weiß, du glaubst, ich kümmere mich nicht um dich und mag dich nicht, weil du mir immer alles verboten hast. Aber ich würde dich lieber nicht mögen, weil du mir immer alles verbietest, als überhaupt niemanden mehr zu haben, der mir etwas verbietet.«
Und Pappie stand einfach nur da. Er wußte nicht, was er mit einem solchen Ausbruch anfangen sollte, außer daß er näher kam und eine Hand ausstreckte. Es kostete ihn sichtlich Mühe, doch er hob sie zitternd, und ihre Umrisse waren ein ganz klein wenig verschwommen.
»Oh, Pappie!« rief Dua aus und ließ ihre eigene Hand herumfließen, so daß die seine nebelhaft und schimmernd durch ihre Substanz zu sehen war, doch sie nahm sich in acht, sie nicht zu berühren, denn das hätte ihn in Verlegenheit gebracht.
Dann zog er sich zurück, und ihre Hand hing nutzlos im Leeren, und er sagte: »Denk an die Hartlinge, Dua. Sie helfen dir. Ich… ich gehe jetzt.«
Er ging, und sie sah ihn niemals wieder. Nun saß sie dort im Sonnenuntergang und ließ ihre Gedanken durch die Vergangenheit wandern, und sie machte sich widerwillig klar, daß Tritt wegen ihrer Abwesenheit bald ungeduldig werden und Odeen auf der Seele liegen würde.
Und dann versuchte ihr Odeen wahrscheinlich einen Vortrag über ihre Pflichten zu halten. Es war egal.
Odeen hatte eine schwache Ahnung davon, daß Dua an der Oberfläche unterwegs war. Ohne darüber nachzudenken, konnte er ihre Richtung abschätzen und in etwa sogar die Entfernung, in der sie sich befand. Wenn er sich die Mühe gemacht hätte, darüber nachzudenken, wäre er wahrscheinlich ärgerlich gewesen, denn eigentlich hatte sich seine innere Bewußtheit seit langem ständig zurückentwickelt, und ohne den Grund dafür zu kennen, vermittelte ihm das ein zunehmendes Gefühl der Zufriedenheit. So sollte es sein; der Vorgang war ein Zeichen für die fortschreitende Entwicklung des Körpers, für das Älterwerden.
Tritts innere Bewußtheit dagegen ließ nicht nach, sondern wandte sich immer mehr den Kindern zu. Das war offensichtlich entwicklungsbedingt und nützlich, doch überhaupt war die Rolle eines Elterlings einfach, so wichtig sie andererseits sein mochte. Ein Denkling war viel komplizierter, und dieser Gedanke erfüllte Odeen mit düsterer Befriedigung.
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