»Was können wir denn jetzt noch tun, um die Sache wieder einzurenken?«, fragte Augustine.
Dicken entzog sich seinem Griff. »Nichts, Mark. Gar nichts.
Und sagen Sie bloß nicht, ich soll es versuchen.«
Shawbeck stieß mit mürrischer Miene zu ihnen. »Für heute Abend ist wieder ein Marsch auf Washington geplant. Frauengruppen, Christen, Schwarze, Hispanier. Sie evakuieren das Kapitol und das Weiße Haus.«
»Herrgott nochmal«, sagte Augustine, »was haben die denn vor?
Wollen sie das ganze Land dichtmachen?«
»Der Präsident hat umfassenden Verteidigungsmaßnahmen zugestimmt. Nicht nur Nationalgarde, sondern auch reguläre Armee.
Ich nehme an, der Bürgermeister wird für die Stadt den Ausnahmezustand ausrufen. Der Vizepräsident fliegt heute Abend nach Los Angeles. Meine Herren, wir sollten ebenfalls zusehen, dass wir hier rauskommen.«
Dicken sah, wie Kaye sich mit ihrem Leibwächter herumstritt.
Er eilte durch den Flur, um nachzusehen, was los war, aber die beiden standen schon im Aufzug, und gerade als er näher kam, schloss sich die Tür.
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Kaye in der Eingangshalle und schrie sich die Lunge aus dem Hals. »Ich will Ihren Schutz nicht! Ich will so etwas überhaupt nicht! Ich habe Ihnen doch gesagt …«
»Ich habe keine andere Wahl, Madam«, erwiderte Benson, der wie ein kleiner Stier sein Revier verteidigte. »Wir befinden uns im Alarmzustand. Sie können erst dann wieder in Ihre Wohnung, wenn wir hier mehr Sicherheitsbeamte haben, und das dauert noch mindestens eine Stunde.«
Die Wachleute des Gebäudes verriegelten die Eingänge und stellten Absperrungen auf. Kaye wirbelte herum, sah die Barrikaden, die neugierigen Gesichter hinter den Glastüren. Vor das Außenportal senkten sich schwere Stahlgitter.
»Kann ich telefonieren?«
»Jetzt nicht, Ms. Lang«, sagte Benson. »Wenn das alles meine Schuld wäre, würde ich mich in aller Form entschuldigen, das wissen Sie.«
»Ja, genau wie an dem Tag, als Sie Augustine gesagt haben, wer in meiner Wohnung war.«
»Die haben den Pförtner gefragt, Ms. Lang, nicht mich.«
»Also was ist jetzt los, wir gegen die da ? Ich will draußen bei den richtigen Menschen sein und nicht hier drin …«
»Wenn die Sie erkennen, wollen Sie das nicht mehr«, sagte Benson.
»Karl, kapieren Sie doch, ich bin zurückgetreten .«
Der Leibwächter hob die Hände und schüttelte energisch den Kopf: Es kam nicht infrage.
»Wo soll ich denn nun hin?«
»Wir bringen Sie zu den anderen Wissenschaftlern in die Vorstandslounge.«
»Zu Jackson?« Kaye biss sich auf die Lippe und starrte zur Decke; hilfloses Lachen schüttelte sie.
62
State University of New York, Albany
Aus dem Taxifenster starrte Mitch die Studenten an, die auf der von Bäumen gesäumten Straße marschierten. Entlang des Demonstrationsweges strömten die Menschen aus Wohnhäusern und Bürogebäuden. Dieses Mal trugen sie keine Spruchbänder, keine Transparente, aber alle hatten die linke Hand erhoben — mit ausgestreckten Fingern, die Handfläche nach vorn.
Der Fahrer, ein Einwanderer aus Somalia, senkte den Kopf und blickte nach rechts aus dem Fenster. »Was bedeutet das, die erhobene Hand?«
»Keine Ahnung«, sagte Mitch.
Der Demonstrationszug schnitt ihnen an einer Kreuzung den Weg ab. Das Universitätsgelände war nur wenige Häuserblocks entfernt, aber Mitch bezweifelte, dass er heute noch dort ankommen würde.
»Das macht mir Angst«, sagte der Fahrer, drehte sich um und sah Mitch an. »Die wollen, dass man etwas tut, ja?«
Mitch nickte. »Das nehme ich an.«
Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Ich möchte diese Reihe nicht durchqueren. Es ist eine lange Reihe. Mister, ich bring’ Sie wieder zum Bahnhof, da sind Sie sicher.«
»Nein«, erwiderte Mitch. »Lassen Sie mich hier aussteigen.«
Er zahlte und trat auf den Bürgersteig. Das Taxi wendete und fuhr davon, bevor andere Autos es einkeilen konnten.
Mitch biss die Zähne zusammen. Die Spannung, die soziale Sprengkraft in der langen Schlange der Männer und Frauen, war mit Händen zu greifen. Anfangs waren es vorwiegend junge Leute gewesen, aber jetzt kamen immer mehr Ältere hinzu. Sie strömten aus den Häusern, und alle marschierten mit erhobener linker Hand.
Keine Fäuste. Hände. Das fand Mitch bemerkenswert.
Ein paar Meter von ihm entfernt parkte ein Polizeiwagen. An seinen geöffneten Türen standen zwei Streifenbeamten und sahen einfach zu.
An dem Tag, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, hatte Kaye sich über die Gesichtsmasken lustig gemacht. Sie hatten sich so selten geliebt. Mitchs Kehle schnürte sich zusammen. Er fragte sich, wie viele Frauen in der Demonstration wohl schwanger waren, wie viele ein positives Ergebnis des SHEVATests erhalten würden, und wie sich das auf ihre Beziehungen auswirkte.
»Wissen Sie, was hier los ist?«, wollte ein Polizist von Mitch wissen.
»Nein.«
»Glauben Sie, dass es schlimm zugehen wird?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Mitch.
»Uns hat mal wieder keiner was gesagt«, grummelte der Polizist und stieg wieder in den Streifenwagen. Das Auto setzte zurück, war aber von anderen Fahrzeugen eingekeilt und kam nicht weiter. Mitch hielt es für klug, dass sie nicht die Sirene einschalteten.
Es war ein anderer Marsch als in San Diego. Hier waren die Menschen müde, traumatisiert, schon fast ohne Hoffnung. Mitch hätte ihnen gern gesagt, dass ihre Angst unbegründet war, dass es sich nicht um eine Katastrophe, nicht um eine Seuche handelte, aber er wusste selbst nicht mehr genau, was er glauben sollte. Angesichts dieser gewaltigen Welle der Gefühle, der Ängste, verblassten alle Überzeugungen und Meinungen.
Er wollte die Stelle an der SUNY nicht annehmen. Er wollte bei Kaye sein und sie beschützen; er wollte ihr helfen, das alles beruflich und privat durchzustehen, und er wollte auch, dass sie ihm half.
Es war nicht die rechte Zeit, um allein zu sein. Die ganze Welt wand sich vor Qualen.
Kaye schloss ihr Appartement auf und ging langsam hinein. Sie stieß die schwere Tür hinter sich mit zwei Fußtritten zu, lehnte sich dagegen und verriegelte sie. Dann ließ sie Hand- und Reisetasche fallen und blieb einen Augenblick stehen, als müsse sie sich erst einmal zurechtfinden. Sie hatte seit achtundzwanzig Stunden nicht geschlafen.
Draußen war es später Vormittag.
Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Sie hörte die drei Nachrichten ab. Als Erstes bat Judith Kushner um Rückruf. Die zweite war von Mitch — er hatte eine Telefonnummer in Albany hinterlassen. Die dritte war ebenfalls von Mitch. »Ich habe es geschafft, wieder nach Baltimore zu kommen, aber es war nicht einfach. Sie lassen mich nicht ins Haus, der Schlüssel, den du mir gegeben hast, nützt mir also nichts. Ich habe es bei Americol versucht, aber dort sagt mir die Telefonzentrale, dass sie keine Anrufe nach außerhalb weiterverbinden, und du seist auch nicht dort, oder so was. Ich bin schon ganz krank vor Sorgen. Hier draußen ist die Hölle los, Kaye. Ich rufe in ein paar Stunden noch mal an, hoffentlich bist du dann zu Hause.«
Kaye trocknete sich die Augen und fluchte halblaut. Sie konnte kaum geradeaus blicken. Ihr war, als sei sie in klebrigem Sirup stecken geblieben und dürfe sich nicht die Schuhe reinigen.
Viertausend Demonstranten hatten einen Ring um das AmericolGebäude gebildet und den Verkehr im weiteren Umkreis zum Erliegen gebracht. Die Polizei hatte eingegriffen und die Menge provoziert, sodass sie in immer kleinere, unkontrollierte Gruppen zerfallen war. Tumulte waren ausgebrochen. Sie hatten Brände gelegt und Autos umgestürzt.
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