Ich glaube, im vorliegenden Fall reagiert das Genom auf den gesellschaftlichen Wandel und die von ihm verursachten Belastungen.«
Jackson tat, als lasse er sich diese Ideen erst einmal durch den Kopf gehen, und fragte dann: »Wenn Sie einen Doktoranden betreuen müssten, und er würde vorschlagen, diese Möglichkeit in seiner Dissertation näher zu untersuchen — würden Sie ihn ermutigen?«
»Nein«, sagte Kaye entschieden.
»Warum nicht?«, bohrte Jackson weiter.
»Es ist keine allgemein anerkannte Sichtweise. Die Evolutionsforschung war immer ein sehr engstirniges Teilgebiet der Biologie, und nur wenige tapfere Vertreter stellen die Lehre der modernen darwinistischen Synthese infrage. Ein Doktorand sollte das nicht allein versuchen.«
»Charles Darwin hatte Unrecht, und Sie haben Recht?«
Kaye wandte sich an Augustine. »Leitet Dr. Jackson ganz allein dieses Verhör?«
Augustine trat einen Schritt vor. »Sie haben hier die Gelegenheit, ihren Gegnern zu antworten, Dr. Lang.«
Kaye drehte sich wieder um und sah das Publikum einschließlich Jackson mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich stelle Charles Darwin nicht infrage, ich habe, im Gegenteil, große Hochachtung vor ihm. Darwin hätte empfohlen, wir sollten unsere Vorstellungen nicht in Stein meißeln, bevor wir nicht alle Gesetzmäßigkeiten verstanden haben. Auch viele Aussagen der modernen Synthese lehne ich keineswegs ab; alles, was das Genom hervorbringt, muss eindeutig die Überlebensprüfung bestehen.
Mutationen sind eine Ursache unerwarteter und manchmal nützlicher Neuerungen. Aber wenn wir erklären wollen, was wir in der Natur beobachten, reicht das nicht aus. Die moderne Synthese wurde zu einer Zeit entwickelt, als wir gerade die allerersten Erkenntnisse über die DNA gewannen und die moderne Genetik in den Kinderschuhen steckte. Darwin wäre fasziniert gewesen, wenn er gewusst hätte, was wir heute wissen, über Plasmide und den Austausch freier DNA, über Fehlerkorrektur im Genom, über Redigieren von RNA und Transposition und versteckte Viren, über Marker und Genstruktur, über alle möglichen genetischen Phänomene, von denen viele eben nicht fein säuberlich in eine sehr enge Interpretation der modernen Synthese passen.«
»Unterstützt irgendein angesehener Wissenschaftler die Vorstellung, dass das Genom eine Art Geist ist, der sich selbst wahrnimmt, die Umwelt beurteilt und über den Verlauf seiner eigenen Evolution bestimmt?«
Kaye holte tief Luft. »Die von Ihnen formulierte Theorie zu korrigieren und auszuweiten, würde mehrere Stunden dauern, aber die Antwort lautet, einfach gesagt, ja. Leider ist keiner von ihnen heute hier.«
»Und ihre Ansichten sind unumstritten?«
»Natürlich nicht. Nichts auf diesem Gebiet ist unumstritten.
Und den Begriff ›Geist‹ würde ich gern vermeiden, weil er persönliche und religiöse Anklänge hat, die uns hier nicht weiterbringen.
Ich spreche lieber von einem Netzwerk; von einem wahrnehmungs- und anpassungsfähigen Netzwerk aus kooperierenden und konkurrierenden Individuen.«
»Glauben Sie, dass dieser Geist, oder dieses Netzwerk, in irgendeiner Form gleichbedeutend mit Gott sein könnte?« Zu ihrer Überraschung stellte Jackson diese Frage ohne jede Selbstgefälligkeit oder Geringschätzung.
»Nein«, erwiderte Kaye. »Auch unser Gehirn funktioniert als wahrnehmungs- und anpassungsfähiges Netzwerk, aber deshalb glaube ich nicht, dass wir Götter sind.«
»Aber unser eigenes Gehirn bringt doch den Geist hervor, oder?«
»Ich glaube, hier trifft der Begriff zu, ja.«
Jackson reckte fragend die Hände in die Höhe. »Damit ist der Kreis geschlossen. Eine Art Geist — oder vielleicht jemand mit Namen Geist — lenkt die Evolution?«
»Auch hier sind Betonung und Bedeutung der Wörter wichtig«, sagte Kaye, bevor ihr klar wurde, dass sie die Frage am besten schweigend übergangen hätte.
»Haben Sie Ihre Theorie schon einmal in vollem Umfang von einer angesehenen Fachzeitschrift begutachten und veröffentlichen lassen?«
»Nein«, erwiderte Kaye. »Einige Aspekte habe ich in meinen veröffentlichten Aufsätzen über HERVDL3 zum Ausdruck gebracht, und die haben das Begutachtungsverfahren durchlaufen.«
»Viele Ihrer Artikel wurden von anderen Fachzeitschriften abgelehnt, ist das richtig?«
»Ja.«
»Von Cell beispielsweise.«
»Ja.«
»Ist Virology das angesehenste Fachblatt auf diesem Gebiet?«
»Es ist eine wichtige Zeitschrift«, erwiderte Kaye. »Dort sind zahlreiche bedeutsame Artikel erschienen.«
Jackson ließ das durchgehen. »Ich hatte noch nicht die Zeit, das gesamte von Ihnen verteilte Material zu lesen. Dafür entschuldige ich mich«, fuhr er fort und stand auf. »Können Sie nach bestem Wissen sagen, dass einer der Autoren, deren Artikel Sie an uns verteilt haben, mit Ihnen in der Frage, wie Evolution abläuft, in allen Punkten übereinstimmt?«
»Natürlich nicht. Das Fachgebiet steckt noch in der Entwicklung.«
»Es steckt nicht nur in der Entwicklung, es ist sozusagen noch sehr unreif, stimmt das, Dr. Lang?«
»Es steckt in den Kinderschuhen, ja«, gab Kaye spitz zurück.
»Die Bezeichnung ›sehr unreif‹ trifft vor allem auf jene zu, die überzeugende Belege leugnen.« Sie konnte nicht umhin, Dicken anzusehen. Er erwiderte ihren Blick mit unglücklicher Miene.
Augustine trat wieder vor und hob die Hand. »So könnten wir noch tagelang weitermachen. Das wäre sicher eine interessante Tagung. Aber jetzt müssen wir beurteilen, ob Ansichten, wie Dr. Lang sie vertritt, sich für die Ziele der Taskforce als schädlich erweisen können. Wir haben die Aufgabe, die Volksgesundheit zu schützen und nicht abgelegene wissenschaftliche Fragen zu diskutieren.«
»Das ist nicht ganz fair, Mark«, wandte Marge Cross ein und erhob sich. »Kaye, kommen Sie sich hier vor wie in einem Schauprozess?«
Kaye atmete, halb lachend, halb seufzend, ruckartig aus, senkte den Blick und nickte.
»Es wäre mir sehr lieb, wenn wir mehr Zeit hätten«, sagte Marge. »Ganz ehrlich. Ich finde diese Ansichten faszinierend und teile sie in vielen Fällen, meine Liebe, aber wir stecken hoffnungslos im Morast von Geschäft und Politik, und wir müssen das tun, was alle unterstützen und was die Öffentlichkeit begreift. Ich kann in diesem Raum keine Unterstützung Ihrer Position erkennen, und ich weiß, dass wir weder die Zeit noch den Willen zu einer breit geführten öffentlichen Debatte haben. Leider müssen wir bei der Kommandowissenschaft bleiben, Dr. Augustine.«
Augustine war über diese Bezeichnung offensichtlich alles andere als erfreut.
Kaye sah den Vizepräsidenten an. Der Politiker starrte auf das Konvolut auf seinen Knien, das er nicht aufgeschlagen hatte. Es war ihm ganz offensichtlich peinlich, dass er sich hier in einer Arena befand, in der er nicht mitreden konnte. Er sehnte das Ende dieser Diskussion herbei.
»Ich verstehe, Marge«, sagte Kaye. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bebte. »Danke, dass Sie es so deutlich ausgesprochen haben. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als mich aus der Taskforce zurückzuziehen. Mein Wert für Americol wird dadurch vermutlich sinken, und deshalb biete ich auch Ihnen meinen Rücktritt an.«
Augustine nahm Dicken auf dem Flur nach der Besprechung beiseite. Dicken hatte versucht, Kaye einzuholen, aber sie war schon weit voraus und fast beim Aufzug.
»Das Ganze hat sich nicht so entwickelt, wie ich es mir gewünscht hätte«, sagte Augustine. »Ich will nicht, dass sie die Taskforce verlässt. Aber ich will auch nicht, dass sie mit ihren Gedanken an die Öffentlichkeit geht. Du lieber Himmel, einen schlechteren Dienst hätte Jackson uns nicht erweisen können …«
»Ich kenne Kaye Lang ziemlich genau«, erwiderte Dicken. »Die ist jetzt stinksauer und für immer weg. Und daran bin ich genauso schuld wie Jackson.«
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