»Natürlich, Denise, aber …« Kaye drehte sich um, betrachtete das vertraute Büro, die Diagramme an den Wänden, die Bilder von Feten in verschiedenen Entwicklungsstadien. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Augustine hat uns gebeten, die Gabe von RU-486 so lange hinauszuschieben, bis man sich auf ein einheitliches Verfahren geeinigt hat. Aber hier hat der Forschungsleiter der Klinik das Sagen.«
»Na gut«, erwiderte Kaye. »Wer hat denn nicht um das Medikament gebeten?«
»Luella Hamilton«, sagte Lipton. »Sie hat es mitgenommen und versprochen, sich regelmäßig von ihrem Frauenarzt untersuchen zu lassen, aber sie hat es nicht unter unserer Aufsicht geschluckt.«
»Dann ist also alles vorbei?«
»Wir haben die Finger nicht mehr im Spiel«, sagte Lipton leise.
»Wir hatten keine andere Wahl. Ethisch, politisch, so oder so hätten wir Prügel bezogen. Wir haben uns für die Ethik und die Unterstützung der Patientinnen entschieden. Aber wenn es heute geschehen würde … Wir haben neue Anweisungen vom Gesundheitsministerium. Keine Empfehlung zum Schwangerschaftsabbruch und keine Abgabe von RU-486. Wir haben uns kurz vor Toresschluss aus der Sache mit den Babys verabschiedet.«
»Ich habe von Mrs. Hamilton weder die Heimatadresse noch die Telefonnummer«, sagte Kaye.
»Die werden Sie von mir auch nicht bekommen. Sie hat ein Recht auf Privatsphäre.« Lipton starrte sie an. »Stellen Sie sich nicht außerhalb des Systems, Kaye.«
»Ich glaube, das System wird mich jeden Augenblick rauswerfen«, erwiderte sie. »Danke, Denise.«
Im Zug nach Albany, im muffigen Geruch von anderen Fahrgästen, sonnendurchwärmtem Polsterstoff, Desinfektionsmitteln und Plastik, ließ Mitch sich in seinen Sitz fallen. Ihm war, als käme er gerade aus einer anderen Welt. Die Begeisterung, mit der Daney einen »neuen Menschen« in seine Familie holen wollte, faszinierte ihn und erfüllte ihn zugleich mit Angst. Die Menschheit war mittlerweile so gehirnbetont und hatte so viel Kontrolle über ihre biologische Entwicklung übernommen, dass sie diese unerwartete, uralte Form der Fortpflanzung, der Schaffung neuer Spielarten einer Spezies, entweder im Keim ersticken oder aber sich daran wie an einer Art Spiel beteiligen konnte.
Er blickte aus dem Fenster auf kleine Ortschaften, Wälder mit jungen Bäumen und größere Städtchen mit grauen Lagerhäusern und Fabriken — langweilig, schmutzig und produktiv.
61
AmericolZentrale, Baltimore
Kay griff nach den Artikeln, die sie über MedLine bestellt hatte — acht verschiedene Aufsätze in je zwanzig Exemplaren, alle fein säuberlich zusammengeheftet. Während sie in den Aufzug stieg, schüttelte sie den Kopf und überflog eines der Konvolute.
In der zehnten Etage brauchte sie noch einmal fünf Minuten, um die verschiedenen Sicherheitskontrollen zu passieren. Wachleute wedelten mit Detektoren, überprüften ihren Firmenausweis und fuhren mit Gasspürgeräten über ihre Hände und Handtasche.
Schließlich bat der Personenschutzleiter des Vizepräsidenten jemanden aus dem Vorstandskasino, für sie zu bürgen. Dicken kam heraus und versicherte, sie persönlich zu kennen, sodass sie eine Viertelstunde nach Beginn der Besprechung das Restaurant betreten konnte.
»Sie kommen zu spät«, flüsterte Dicken.
»Ich habe im Stau gesteckt. Wissen Sie schon, dass man die Sonderstudie eingestellt hat?«
Dicken nickte. »Jetzt zieren sich alle, und niemand will Zugeständnisse machen. Niemand will für irgendetwas die Schuld zugeschoben bekommen.«
Ziemlich weit vorn sah Kaye den Vizepräsidenten und neben ihm den wissenschaftlichen Berater sitzen. Im Raum waren mindestens vier Sicherheitsleute — sie war froh, dass Benson draußen geblieben war.
Auf einem Tisch auf der Rückseite des Raumes waren alkoholfreie Getränke, Obst, Käse und Gemüse aufgebaut, aber niemand aß etwas. Der Vizepräsident hielt eine PepsiDose umklammert.
Als Dicken mit Kaye zu ihrem Klappstuhl auf der linken Seite des Raumes ging, beendete Frank Shawbeck gerade eine kurze Zusammenfassung über die Befunde der NIHStudien.
»Das hat nur fünf Minuten gedauert«, flüsterte Dicken in Kayes Ohr.
Shawbeck raffte seine Papiere auf dem Rednerpult zusammen und trat zur Seite. Als Nächster war Mark Augustine dran. Er stützte sich auf das Pult.
»Dr. Lang ist jetzt hier«, sagte er ausdruckslos. »Wenden wir uns nun den gesellschaftlichen Fragen zu. Wir hatten mittlerweile zwölf größere Unruhen quer durch die Vereinigten Staaten. Die meisten davon wurden offensichtlich durch die Ankündigung ausgelöst, wir würden RU-486 kostenlos abgeben. Derartige Pläne wurden bisher nicht vollständig ausgearbeitet, aber sie sind natürlich in der Diskussion.«
»Keines dieser Medikamente ist verboten«, sagte Cross gereizt.
Sie saß rechts neben dem Vizepräsidenten. »Herr Vizepräsident, ich habe den Mehrheitsführer im Senat zu dieser Besprechung eingeladen, aber er hat abgelehnt. Ich bin nicht Schuld, wenn es …«
»Bitte, Marge«, sagte Augustine. »In ein paar Minuten können wir alle unserem Unmut Luft machen.«
»Entschuldigung«, erwiderte Cross und verschränkte die Arme.
Der Vizepräsident wandte sich um und musterte die Anwesenden.
Sein Blick blieb an Kaye hängen, und einen Augenblick lang schien er beunruhigt, aber dann wandte er sich wieder nach vorn.
»Die USA sind nicht der einzige Staat, der sich mit sozialen Unruhen auseinander setzen muss«, sagte Augustine. »Wir stehen vor einer gesellschaftlichen Katastrophe größeren Ausmaßes. Kurz gesagt, versteht die breite Öffentlichkeit nicht, was eigentlich los ist.
Die Menschen reagieren gefühlsmäßig oder so, wie Demagogen es ihnen einreden. Der gute Pat Robertson hat schon empfohlen, Gott möge Washington, D. C. im heißesten Höllenfeuer verbrennen lassen, wenn es der Taskforce gestattet wird, die Erprobung von RU-486 fortzusetzen. Und er ist nicht der Einzige. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass in der Öffentlichkeit ziellose Unruhe herrscht, bis etwas in den Vordergrund tritt, das verträglicher ist als die Wahrheit, und dann werden sie sich hinter dieses Banner scharen. Höchstwahrscheinlich wird es religiös gefärbt sein, und dann geht die Wissenschaft den Bach hinunter.«
»Amen«, sagte Cross. Nervöses Lachen lief durch das kleine Publikum. Der Vizepräsident lächelte nicht einmal.
»Diese Besprechung wurde vor drei Tagen angesetzt«, sagte Augustine. »Die Ereignisse von gestern und heute machen es noch dringlicher, dass wir unsere Reihen geschlossen halten.«
Kaye glaubte zu wissen, worauf er hinaus wollte. Sie blickte sich nach Robert Jackson um und sah ihn hinter Cross sitzen. Er drehte den Kopf, sein Blick wanderte nach links, und einen kurzen Augenblick lang sah er ihr direkt ins Gesicht. Kaye spürte, wie sie rot wurde.
»Das gilt mir«, flüsterte sie Dicken zu.
»Seien Sie nicht arrogant«, warnte er. »Wir sind heute alle hier, um kleine Kröten zu schlucken.«
»Wir haben die Untersuchungen mit RU-486 und dem Präparat, das sehr locker und sehr geschmacklos als RUPentium bezeichnet wird, bereits eingestellt«, sagte Augustine. »Dr. Jackson, bitte.«
Jackson erhob sich. »In der präklinischen Erprobung zeigt sich bei allen unseren Impfstoffen und RibozymInhibitoren keine Wirksamkeit gegen die neu aufgetauchten SHEVAStämme, die ungenau als SHEVAX bezeichnet werden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass alle neuen Fälle der Herodes-Grippe während der letzten drei Monate auf die horizontale Übertragung von SHEVAX zurückzuführen sind, das in mindestens neun verschiedenen Varianten mit jeweils anderen HüllGlycoproteinen vorkommen dürfte. Auf die MessengerRNA für den LPC im Cytoplasma können wir nicht zielen, weil unsere derzeitigen Ribozyme die mutierte Form nicht erkennen. Kurz gesagt, stecken wir mit dem Impfstoff in einer Sackgasse. Alternativen haben wir voraussichtlich frühestens in einem halben Jahr anzubieten.« Er setzte sich.
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