»Stimmt«, erwiderte Mitch. »Ein Mal.«
Der Eingang des Landhauses führte in eine riesige, düstere, mit dunklem Holz getäfelte Halle. Durch ein Oberlicht fielen drei parallele Sonnenstrahlen auf den altersdunklen Kalksteinboden und ließen eine riesige chinesische Porzellanvase aufleuchten, aus deren Mitte ein runder, von einer Halbkugel aus Blumen gekrönter Tisch erwuchs. Im Schatten neben dem Tisch stand ein Mann.
»William, das ist Mitch Rafelson«, sagte Merton, griff nach Mitchs Ellenbogen und führte ihn weiter.
Der Mann im Schatten streckte die Hand in einen der Sonnenstrahlen; an seinen dicken, kräftigen Fingern glänzten drei goldene Ringe. Mitch schüttelte die Hand herzhaft. Daney war Anfang fünfzig, sonnengebräunt und hatte gelblichweißes Haar, das aus einer Wagnerschen Stirn zurückwich. Seine kleinen, vollkommen geformten Lippen schienen immer zu einem Lächeln aufgelegt, die Augen waren dunkelbraun, die Wangen glatt wie bei einem Baby.
Seine Schultern wirkten durch ein wattiertes Jackett breiter als sie eigentlich waren, aber die Arme sahen muskulös aus.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen«, sagte Daney. »Wissen Sie, ich hätte Ihren Freunden die Mumien abgekauft, wenn man sie mir angeboten hätte. Und dann hätte ich sie nach Innsbruck geschickt und denen dort überlassen. Das habe ich auch Herrn Professor Brock gesagt, und er hat mir Absolution erteilt.«
Mitch lächelte höflich. Er sollte hier also mit Brock zusammentreffen.
»William sammelt eigentlich gar keine echten Überreste von Menschen«, sagte Merton.
»Ich gebe mich mit Kopien, Abgüssen und Skulpturen zufrieden«, fügte Daney hinzu. »Ich bin kein Wissenschaftler, sondern nur Liebhaber, aber ich möchte die Vergangenheit ehren, indem ich sie zu verstehen versuche.«
»Also auf in die Ruhmeshalle der Menschheit«, sagte Merton mit einer gezierten Handbewegung. Daney warf stolz den Kopf zurück und ging voraus.
Die Eingangshalle führte in einen ehemaligen Ballsaal im Ostflügel des Gebäudes. Was Mitch hier sah, kannte er bisher nur aus Museen: Reihen mit Dutzenden von Glasvitrinen, die durch teppichbedeckte Gänge getrennt waren. Jede Vitrine enthielt Abgüsse und Kopien von bedeutsamen anthropologischen Funden. Australopithecus afarensis und robustus ; Homo habilis und erectus. Mitch zählte sechzehn unterschiedliche Neandertalerskelette, alle professionell aufgebaut; bei sechs Skeletten hatte man das Aussehen der Individuen mit Hilfe von Wachs rekonstruiert. Nirgendwo war der Versuch unternommen worden, aus Schamgefühl etwas zu verfälschen: Sämtliche Modelle waren nackt und unbehaart, was Spekulationen über Kleidung und Haarwuchs von vornherein ausschloss.
Reihe um Reihe mit haarlosen Affen, angestrahlt durch elegante, respektvoll abgedämpfte Scheinwerfer, starrte Mitch mit leerem Blick an, als er daran vorüberging.
»Unglaublich«, bemerkte er ein wenig verlegen. »Warum habe ich noch nie von Ihnen gehört, Mr. Daney?«
»Ich habe nur zu wenigen Leuten Kontakt. Zur Familie Leakey, zu Björn Kurten und noch ein paar anderen. Zu meinen engen Freunden. Ich weiß, ich bin ein Exzentriker, aber ich hänge es nicht gern an die große Glocke.«
»Jetzt gehören Sie zu den Auserwählten«, sagte Merton zu Mitch.
»Professor Brock ist in der Bibliothek.« Daney zeigte ihnen den Weg. Mitch wäre gern noch länger in dem Saal geblieben.
Es waren ausgezeichnete Wachsfiguren, und die Reproduktionen der Funde waren erstklassig, vom Original kaum zu unterscheiden.
»Nein, ich bin schon hier. Ich konnte es nicht erwarten.« Brock kam hinter einer Vitrine hervor. »Ich glaube, wir kennen uns, Dr. Rafelson. Und haben wir nicht gemeinsame Bekannte?«
Unter Daneys strahlendem, beifällig beobachtendem Blick gaben Brock und Mitch einander die Hand. Sie gingen ein paar Dutzend Meter weiter in die benachbarte Bibliothek, die wie ein Musterbeispiel edwardianischer Eleganz wirkte: drei Stockwerke mit Galerien, von Geländern gesäumt und durch zwei schmiedeeiserne Brücken verbunden. Beiderseits des einzigen hohen, nach Norden gehenden Fensters hingen riesige Gemälde, dramatische Stimmungsbilder des YosemiteTals und der Alpen.
Sie setzten sich um einen großen, niedrigen Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. »Als Allererstes habe ich eine Frage«, sagte Brock. »Träumen Sie eigentlich von ihnen, Dr. Rafelson? Bei mir ist das nämlich der Fall, und zwar oft.«
Daney servierte selbst den Kaffee, den eine stämmige, trübsinnig wirkende Frau im schwarzen Kostüm in die Bibliothek gerollt hatte. Er schenkte jedem in eine Tasse aus FloraDanicaPorzellan ein — das Dekor des Services, gemalt nach wissenschaftlichen Zeichnungen des neunzehnten Jahrhunderts, zeigte mikroskopisch kleine, in Dänemark heimische Pflanzen. Mitch betrachtete seine Untertasse, die mit drei wunderschön ausgeführten Dinoflagellaten verziert war, und fragte sich, was er wohl tun würde, wenn er so viel Geld hätte, dass er unmöglich alles ausgeben konnte.
Brock nahm das Gespräch wieder auf: »Eigentlich glaube ich nicht an Träume, aber diese Menschen verfolgen mich.«
Mitch blickte von einem zum anderen; er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Es erschien ihm durchaus möglich, dass die Verbindung zu Daney, zu Brock, ja sogar zu Merton sich für ihn nachteilig auswirken konnte. Vielleicht hatte er in dieser Arena einfach schon zu oft eins auf die Nase bekommen.
Merton spürte seine unguten Gefühle. »Diese Zusammenkunft ist ausschließlich privater Natur und wird geheim bleiben«, sagte er. »Ich werde über nichts berichten, was hier gesagt wird.«
»Auf meinen Wunsch hin«, ergänzte Daney und hob viel sagend die Augenbrauen.
»Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie in Ihrer Einschätzung offenbar Recht haben«, sagte Brock. »Mit dem Urteilsvermögen, das Sie bewiesen haben, indem sie bestimmte Personen ausgewählt und sich bestimmte Dinge aus unserer Forschungsarbeit angeeignet haben. Aber man hat mich kürzlich von allen Aufgaben, die mit den Mumien aus den Alpen zu tun hatten, entbunden. Die Diskussionen haben sich auf die persönliche Ebene verlagert und sind für unser aller Berufslaufbahn nicht ungefährlich.«
»Nach Dr. Brocks Ansicht sind die Mumien der erste eindeutige Beleg für ein Artbildungsereignis beim Menschen«, sagte Merton in der Hoffnung, das Gespräch voranzubringen.
»Eigentlich für die Bildung einer Unterart«, fügte Brock hinzu.
»Aber der Artbegriff ist in den letzten Jahrzehnten sehr unscharf geworden, stimmt’s? Am aufschlussreichsten ist, dass ihr Gewebe SHEVA enthält, finden Sie nicht?«
Daney beugte sich, Wangen und Stirn vor heftigem Interesse gerötet, auf seinem Sessel nach vorn.
Mitch sah ein, dass er unter solchen Gesinnungsgenossen keine Zurückhaltung üben konnte. »Wir haben auch andere Fälle gefunden«, sagte er.
»Ja, das habe ich schon von Oliver und von Maria Konig an der University of Washington gehört.«
»Eigentlich habe nicht ich sie gefunden, sondern Leute, mit denen ich gesprochen habe. Ich selbst habe, gelinde gesagt, keinen Erfolg gehabt. Mein schlechter Ruf ist mir vorausgeeilt.«
Brock winkte ab. »Als ich Sie in Ihrer Wohnung in Innsbruck angerufen habe, hatte ich Ihnen den Lapsus schon verziehen. Ich konnte die Sache nach vollziehen, und Ihre Geschichte klang glaubhaft.«
»Danke«, sagte Mitch. Er war ehrlich gerührt.
»Es tut mir Leid, dass ich damals noch nicht offen zu Ihnen war, aber ich hoffe, Sie verstehen meine Gründe.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Mitch.
»Was soll denn jetzt geschehen?«, fragte Daney. »Wird man die Befunde über die Mumien veröffentlichen?«
»Ja«, sagte Brock. »Sie werden behaupten, es handele sich um Verunreinigungen, und die Mumien seien in Wirklichkeit gar nicht verwandt. Die Neandertaler wird man als Homo sapiens alpinensis bezeichnen und den Säugling nach Italien schicken, wo andere Spezialisten ihn untersuchen werden.«
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