Dickens Überlebensinstinkt sagte ihm, es sei jetzt an der Zeit, die eigene Angst, den ganzen Psychomist zu überwinden und sich aus der Menge zu entfernen. Er hörte, wie ganz in der Nähe ein Redner zur Vorsicht mahnte, und wie der Mann neben ihm, der einen Filteranzug trug, durch die Maske murmelte: »Inzwischen ist es nicht nur eine Krankheit. Es kam gerade in den Nachrichten.
Es gibt noch eine weitere Seuche.«
Eine Frau mittleren Alters im Blümchenkleid hatte einen kleinen tragbaren Fernseher dabei. Sie hielt ihn in die Höhe, sodass die Umstehenden auf dem Bildschirm den winzigen Kopf erkennen konnten, der mit einem dünnem Stimmchen etwas sagte. Dicken konnte die Worte nicht verstehen.
Langsam und ständig auf der Hut, als watete er durch Nitroglyzerin, kam er bis zum Rand der Menge voran. Sein Hemd und die dünne Jacke waren schweißdurchtränkt. Ein paar andere versprengte scharfe Beobachter wie er selbst, spürten die Veränderung ebenfalls, ihre Blicke huschten hin und her. Die Menge wurde vom eigenen Chaos erdrückt. Es war eine dunkle, schwüle Nacht; Sterne waren nicht zu sehen. Die orangefarbenen Lampen entlang der Straße und rings um die Podeste und Zelte tauchten alles in hartes Licht.
In einer Gruppe von zwanzig oder dreißig Menschen stand Dicken jetzt wieder vor den Barrikaden an den Stufen des Kapitols, wo er bereits vor einer Stunde gewesen war. Berittene Polizisten, Männer und Frauen auf wunderschönen braunen Pferden, die in dem irrealen Licht die Farbe von Bernstein hatten, bewegten sich an der Absperrung hin und her. Es waren Dutzende, mehr als er je zuvor gesehen hatte. Die Soldaten der Nationalgarde hatten sich ein Stück zurückgezogen und bildeten eine — allerdings nicht sehr dichte — Kette. Sie waren nicht einsatzbereit. Offenbar rechneten sie nicht mit Schwierigkeiten, denn sie hatten weder Helme noch Schilde dabei.
Unvermittelt hörte er ringsum flüsternde, gedämpfte Stimmen.
»Kann nicht …«
»Kinder haben das …«
»Meine Enkel werden …«
»Die letzte Generation …«
»Buch …«
»Halt …«
Dann gespenstische Stille. Dicken stand in der fünften Reihe.
Weiter würden sie ihn nicht durchlassen. Beschränkte, aufgebrachte Gesichter, wie Schafe, mit leerem Blick. Schiebende Hände. Unwissend. Verängstigt.
Er hasste sie, hätte ihnen am liebsten die Nase eingeschlagen. Er war ein Narr; er wollte nicht zu den Schafen gehören. »Darf ich mal durch?« Keine Reaktion. Der Mob hatte sich entschieden; er spürte das zielgerichtete Pulsieren. Die hirnlose Masse wartete gespannt ab.
Im Osten flammten Lichter auf. Dicken sah, wie das Washington Monument in weißes Licht, heller als die Scheinwerfer, getaucht wurde. Vom düsteren, trüben Himmel war leises Donnergrollen zu hören. Regentropfen fielen auf die Menge. Gesichter blickten nach oben.
Er konnte die Bereitschaft der Menge mit Händen greifen. Es musste etwas geschehen. Nur noch ein Gedanke beschäftigte sie: Es muss etwas geschehen.
Es begann zu schütten. Die Menschen streckten die Hände über den Kopf. Lächeln machte sich breit. Gesichter überließen sich dem Regen. Manche Leute setzten sich, so gut es ging, in Bewegung. Andere hielten dagegen, sodass erstere bestürzt stehen blieben.
Ein Krampf durchzuckte die Menge. Plötzlich spie sie ihn aus.
Er schaffte es bis zu den Absperrungen, wo er sich plötzlich einem Polizisten gegenübersah. »Du lieber Gott«, sagte der Polizist und trat hastig drei Schritte zurück, als die Menge sich über die Barrieren schob. Die Berittenen versuchten sie zurückzudrängen und sprengten hinein. Eine Frau schrie auf. Wie eine große Woge schwappte die Menge über die berittenen und unberittenen Polizisten hinweg, ehe sie ihre Schlagstöcke heben oder ihre Pistolen aus den Halftern ziehen konnten. Ein Pferd wurde gegen die Stufen gedrängt und geriet ins Stolpern; es stürzte in die Menge, der Reiter fiel herunter, ein Stiefel flog durch die Luft.
Dicken schrie »Ich gehöre zum Stab!« und rannte die Stufen des Kapitels hinauf, mitten zwischen den Wachen hindurch, die keine Notiz von ihm nahmen. Froh, sich befreit zu haben, schüttelte er den Kopf, lachte und wartete, dass der Tumult richtig losging.
Aber der Mob war dicht hinter ihm, und er schaffte es gerade noch, wieder loszulaufen, weg von den Menschen, den vereinzelten Schüssen, der nassen, sich ausbreitenden, stinkenden Masse.
Mitch entdeckte die morgendliche Schlagzeile an einem Zeitungsstand der Pennsylvania Station. In der Daily News hieß es:
AUFRUHR VOR DEM KAPITOL
Senat gestürmt
Vier Senatoren getötet; Dutzende Tote, mehrere tausend Verletzte
Kaye und er hatten am Abend bei Kerzenlicht zusammen gegessen und danach miteinander geschlafen. Sehr romantisch, völlig losgelöst von allem. Sie hatten sich erst vor einer Stunde getrennt. Kaye hatte die Farbe ihrer Kleidung sorgfältig ausgewählt; sie hatte einen schwierigen Tag vor sich.
Er holte sich eine Zeitung und bestieg den Zug. Gerade hatte er sich gesetzt und das Blatt aufgeschlagen, da fuhr der Zug an. Als er beschleunigte, fragte sich Mitch, ob Kaye sich in Gefahr befand, ob es ein spontaner oder organisierter Aufruhr war und ob das überhaupt eine Rolle spielte.
Das Volk hatte gesprochen, oder besser gesagt: Es hatte die Zähne gefletscht. Die Leute hatten das Versagen und die Untätigkeit Washingtons satt. Der Präsident führte jetzt Gespräche mit seinen Sicherheitsberatern, den Stabschefs, den Vorsitzenden der wichtigsten Ausschüsse und dem obersten Richter. Für Mitch klang das ganz danach, als bereite man sich langsam, aber sicher darauf vor, den nationalen Notstand auszurufen.
Es war ihm nicht recht, im Zug zu sitzen. Dass Merton ihm oder Kaye nützlich sein konnte, bezweifelte er, und er konnte sich auch nicht vorstellen, vor Collegestudenten Vorlesungen über knochentrockene Knochenkunde zu halten, ohne jemals wieder den Fuß auf ein Grabungsgelände zu setzen.
Mitch legte die zusammengefaltete Zeitung auf seinen Sitz und machte sich durch den Gang auf den Weg zum öffentlichen Telefon am Ende des Wagens. Er wählte Kayes Nummer, aber sie war schon weg; sie bei Americol anzurufen, hielt er für taktisch unklug.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, kehrte er zu seinem Platz zurück.
Dicken hatte sich für zehn Uhr mit Kaye in der AmericolKantine verabredet. An der Konferenz, die für sechs Uhr abends angesetzt war, würden eine ganze Reihe Gäste teilnehmen, unter anderem der Vizepräsident und der wissenschaftspolitische Berater des Präsidenten.
Dicken sah entsetzlich aus. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. »Diesmal bin ich das Wrack«, sagte er. »Ich glaube, die Diskussion ist vorbei. Wir sind erledigt, wir sind ausgeschieden.
Wir können zwar weiter Krach schlagen, aber ich wüsste nicht, wer uns noch zuhören sollte.«
»Und was ist mit den wissenschaftlichen Aspekten?«, fragte Kaye vorwurfsvoll. »Sie haben sich doch nach der HerpesKatastrophe alle Mühe gegeben, uns wieder auf Kurs zu bringen.«
»SHEVA mutiert«, sagte Dicken und schlug mit der Hand rhythmisch auf den Tisch.
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«
»Sie haben nur nachgewiesen, dass SHEVA vor langer Zeit mutiert ist. Es ist schlicht und einfach ein menschliches Retrovirus, und zwar ein altes mit einer langsamen, aber sehr schlauen Fortpflanzungsstrategie.«
»Christopher …«
»Sie werden Ihre Anhörung bekommen«, erwiderte Dicken. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Erklären Sie es nicht mir. Erklären Sie es denen. «
Kaye sah ihn verärgert und zugleich erstaunt an. »Warum haben Sie es sich nach so langer Zeit anders überlegt?«
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