»Ein Besäufnis? Das klingt eher nach Liebeskummer und nicht nach einer Fehldiagnose.«
Dicken verzog das Gesicht. »Was wollen Sie mit den ganzen Sachen?«, fragte er und deutete mit dem linken Zeigefinger auf die Akten.
»Ich bringe Material rüber zum neuen Annahmelabor. Sie haben noch vier Seziertische bekommen. Wir stellen Personal und Verfahrensvorschriften zusammen, damit wir rund um die Uhr unter L3-Bedingungen obduzieren können. Verantwortlich ist Dr. Sharp. Ich assistiere der Gruppe, die Nerven- und EpithelUntersuchungen macht. Unter anderem halte ich ihre Aufzeichnungen auf dem neuesten Stand.«
»Könnten Sie mich unterrichten, wenn Sie etwas Besonderes finden?«
»Ich weiß ja nicht einmal, warum Sie eigentlich hier sind, Christopher. Als Sie mit Augustine weggegangen sind, haben Sie hoch über uns geschwebt.«
»Mir fehlt die vorderste Front. Die Stelle, an der neue Nachrichten zuerst eintreffen.« Er seufzte. »Ich bin immer noch hinter Viren her, Jane. Jetzt bin ich zurückgekommen, um ein paar alte Artikel durchzusehen. Vielleicht ist mir ja etwas Entscheidendes entgangen.«
Jane lächelte. »Na ja, heute Morgen habe ich gehört, Mrs. C. hätte Genitalherpes gehabt. Irgendwie ist er schon in einem frühen Entwicklungsstadium auf das Baby C. übergegangen. Es war von Hautschäden übersät.«
Dicken blickte überrascht auf. »Herpes? Das hat bisher noch niemand berichtet.«
»Ich habe ja gesagt, es war ein Ungetüm«, erwiderte Jane. Herpes — das veränderte möglicherweise die Deutung des gesamten Vorganges. Wie konnte das Kind sich den Genitalherpes zuziehen, während es geschützt im Mutterleib lag? Normalerweise wurde die Krankheit über den Geburtskanal von der Mutter auf das Kind übertragen.
Dicken war ernsthaft beunruhigt.
Dr. Denby kam am Büro vorüber, lächelte kurz, machte dann kehrt und schaute durch die offene Tür herein. Er war Spezialist für Bakterienwachstum, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit dem Gesicht eines Engels, elegantem, pflaumenblauem Hemd und roter Krawatte. »Jane? Weißt du schon, dass sie die Cafeteria von außen blockiert haben? Hallo, Christopher.«
»Ich habe es gehört. Beeindruckend«, erwiderte Jane. »Jetzt haben sie etwas anderes vor. Sehen wir es uns an?«
»Nicht wenn es mit Gewalt zu tun hat«, sagte Salter mit einem Schaudern.
»Das ist ja gerade das Gruselige. Es ist friedlich und völlig still!
Wie eine Tanzgruppe ohne Kapelle.«
Dicken kam mit. Sie nahmen den Aufzug und die Treppe zur Vorderseite des Gebäudes. Gemeinsam mit anderen Angestellten und Ärzten gingen sie in die Eingangshalle, in der Schautafeln zur Geschichte der CDC aufgestellt waren. Draußen bewegte sich die Menge in strikter Ordnung. Die Anführer riefen Anweisungen durch Megafone.
Die Hände in die Hüften gestemmt, betrachtete ein Sicherheitsbeamter die Menge durch das Fenster. »Sehen Sie sich das an«, sagte er.
»Was?«, fragte Jane.
»Sie teilen sich, Männlein und Weiblein. Spalten sich auf«, sagte er mit verwirrten Blick.
Die Spruchbänder hingen so, dass sie von der Eingangshalle aus und durch die zahlreichen draußen aufgereihten Kameras deutlich zu erkennen waren. Eines wurde von leichtem Wind gebläht. Auf zwei gebauschten Tüchern konnte Dicken die Aufschrift lesen: MACHT FREIWILLIG MIT. TRENNT EUCH. RETTET EIN KIND.
So wie sich das Rote Meer vor Moses geteilt hatte, teilte sich jetzt die Menge im Angesicht ihrer Führer: Frauen und Kinder wichen auf die eine Seite, Männer auf die andere. Die Frauen sahen grimmig entschlossen aus. Die Männer wirkten trübsinnig und verschüchtert.
»Du lieber Gott«, sagte der Wachmann. »Ich soll also meine Frau verlassen?«
Dicken fühlte sich, als sei er unter eine Dampfwalze geraten. Er ging wieder in sein Büro und rief in Bethesda an. Augustine war noch nicht da. Und Kaye Lang besichtigte gerade das Magnuson Clinical Center.
Augustines Sekretärin fügte hinzu, auf dem NIH Gelände seien ebenfalls mehrere tausend Demonstranten. »Machen Sie mal den Fernseher an«, sagte sie. »Die marschieren im ganzen Land.«
47
National Institutes of Health, Bethesda
Augustine fuhr auf der Old Georgetown Road rund um das NIH Gelände zur Lincoln Street und steuerte einen provisorischen Angestelltenparkplatz in der Nähe der TaskforceZentrale an. Erst vor zwei Wochen hatte man der Taskforce auf Wunsch der Leiterin der Gesundheitsbehörde ein neues Gebäude zugewiesen. Die Demonstranten wussten offensichtlich nichts von dem Wechsel: Sie marschierten nach wie vor zu dem früheren Sitz der Gruppe im Gebäude 10.
Augustine ging schnell durch das wärmende Sonnenlicht zum Eingang im Erdgeschoss. NIHSicherheitsbeamte und die neu eingestellten privaten Wachleute standen vor dem Haus und unterhielten sich leise. Sie hatten ein paar hundert Meter weiter kleine Menschenansammlungen ausgemacht.
»Keine Sorge, Mr. Augustine«, sagte der Sicherheitschef des Gebäudes, als Mark sich mit seiner IDKarte Zutritt zum Haupteingang verschaffte. »Heute Nachmittag kommt die Nationalgarde.«
»Na wunderbar.« Augustine biss die Zähne zusammen und drückte den Aufzugsknopf. In seinem neuen Büro bemühten sich drei Assistenten und seine persönliche Sekretärin, die mütterliche und sehr tüchtige Mrs. Florence Leighton, um die Wiederherstellung der Computernetzverbindung zu den übrigen NIH.
»Was stimmt denn da nicht? Sabotage?«, fragte Augustine ein wenig ungehalten.
»Nein«, erwiderte Mrs. Leighton und drückte ihm einen Stapel Ausdrucke in die Hand. »Dummheit. Der Server hat sich entschlossen, uns nicht zu erkennen.«
Augustine knallte die Bürotür zu, zog seinen Drehstuhl zu sich heran und warf die Papiere auf den Schreibtisch. Das Telefon piepte. Er griff nach dem Hörer und drückte auf den Knopf.
»Fünf Minuten keine Störung bitte, Florence, damit ich meine Gedanken ordnen kann«, bettelte er.
»Es ist Kennealy im Auftrag des Vizepräsidenten, Mark«, sagte Mrs. Leighton.
»Das hat mir gerade noch gefehlt. Stellen Sie durch.«
Zuerst war Tom Kennealy am Apparat, der Leiter der technischen Kommunikation beim Vizepräsidenten — eine weitere neue Position, die man erst vor einer Woche geschaffen hatte; er fragte Augustine, ob man ihn schon über das Ausmaß der Proteste unterrichtet habe.
»Ich sehe es aus meinem Fenster«, erwiderte er.
»Nach der letzten Zählung stehen sie vor vierhundertsiebzig Krankenhäusern.«
»Ein Hoch auf das Internet«, erwiderte Augustine.
»Vier Demonstrationen sind aus dem Ruder gelaufen, den Aufruhr von San Diego nicht mitgerechnet. Der Vizepräsident ist sehr besorgt, Mark.«
»Sagen Sie ihm, dass ich mehr als nur besorgt bin. Es ist die schlechteste Nachricht, die ich mir vorstellen kann — ein totes, bis zum Ende ausgetragenes Herodes Baby.«
»Was ist mit der HerpesGeschichte?«
»Alles Quatsch. Mit Herpes steckt ein Kind sich erst bei der Geburt an. Die haben in Mexico City sicher keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«
»Da haben wir etwas anderes gehört. Vielleicht können wir sie damit ein bisschen beruhigen? Dass es ein krankes Kind war?«
»Klar ist es krank, Tom. Wir müssen uns hier auf die Herodes-Grippe konzentrieren.«
»Na gut. Ich habe den Vizepräsidenten unterrichtet. Hier ist er, Mark.«
Der Vizepräsident kam an den Apparat. Augustine dämpfte seinen Tonfall und begrüßte ihn in aller Ruhe. Der Vizepräsident sagte, man habe für die NIH militärische Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, und das Gleiche gelte für die CDC und die fünf Forschungszentren der Taskforce. Was das bedeutete, konnte Augustine sich lebhaft ausmalen: Stacheldraht, Polizeihunde, Blendgranaten und Tränengas. Eine großartige Atmosphäre für heikle Forschungsarbeiten.
Читать дальше