Tighe, Benson, der flatternde Mann, die Soldaten, die Wachleute, die Menschenmenge — Kaye nahm nichts mehr wahr.
Sie sah nur noch eines: die Frau.
Cross kam auf Krücken in Americols Kasino für leitende Angestellte. Ihr junger Pfleger zog einen Stuhl heran, und sie ließ sich mit einem erleichterten Schnaufen darauf fallen.
Der Pfleger ging. Bis auf Cross, Kaye, Laura Nilson und Robert Jackson war der Raum jetzt leer.
»Wie ist denn das passiert, Marge?«, fragte Jackson.
»Ich bin nicht angeschossen worden«, verkündete sie fröhlich, »sondern nur in der Badewanne ausgerutscht. Mein schlimmster Feind war ich immer selbst. Ich bin eine ungeschickte Kuh. Wie ist der Stand der Dinge, Laura?«
Nilson — Kaye hatte sie seit der katastrophalen Pressekonferenz über den Impfstoff nicht mehr gesehen — trug ein elegantes, aber strenges dreiteiliges Kostüm. »Die Überraschung der Woche ist RU-486«, sagte sie. »Die Frauen benutzen es — und zwar in großen Mengen. Die Franzosen haben eine Lösung vorgeschlagen.
Wir haben mit ihnen gesprochen, aber sie sagen, sie wollten ihr Angebot unmittelbar der WHO und der Taskforce unterbreiten, sie hätten humanitäre Absichten und seien nicht an Geschäftsverbindungen interessiert.«
Marge rief den Kellner, bestellte Wein und wischte sich die Stirn mit der Serviette ab, die sie anschließend auf ihrem Schoß ausbreitete. »Wie edelmütig«, sinnierte sie. »Die werden den Bedarf der ganzen Welt decken, und das ohne neue Kosten für Forschung und Entwicklung. Robert, funktioniert das?«
Jackson nahm einen Palmtop zur Hand und stocherte sich mit einem Stift durch seine Notizen. »Die Taskforce verfügt über unbestätigte Berichte, wonach RU-486 zur Abtreibung der eingenisteten Eizelle des zweiten Stadiums führt. Über das erste Stadium bisher kein Wort. Alles Einzelfallberichte. Hinterhofforschung.«
»Abtreibungspillen waren nie nach meinem Geschmack«, bemerkte Cross. Zum Kellner sagte sie: »Ich nehme den italienischen Salat mit Vinaigrette und eine Tasse Kaffee.«
Kaye bestellte ein ClubSandwich, obwohl sie, gelinde gesagt, keinen Hunger hatte. Sie fühlte, wie sich ein Gewitter zusammenbraute — es war das unangenehme Bewusstsein, dass sie sich in einer gefährlichen Stimmung befand. Immer noch war sie wie betäubt von der Schießerei, die sie zwei Tage zuvor an den NIH miterlebt hatte.
»Laura, du siehst aber gar nicht glücklich aus«, sagte Cross mit einem Seitenblick auf Kaye. Sie würde sich Kayes Klagen bis zum Schluss aufsparen.
»Ein Erdbeben nach dem anderen«, erwiderte Nilson. »Aber wenigstens musste ich nicht miterleben, was Kaye durchgemacht hat.«
»Schrecklich«, stimmte Cross zu. »Es ist ein ganzes Fass voller Würmer. Aber was für Würmer sind es?«
»Wir haben eigene Umfragen in Auftrag gegeben. Psychologische Profile, kulturelle Profile, quer durch den Gemüsegarten. Ich habe jeden Pfennig ausgegeben, den Sie mir zur Verfügung gestellt haben, Marge.«
»Zur Absicherung«, sagte Cross, und Jackson warf gleichzeitig ein: »Beängstigend.«
»Ja, nun ja, man könnte davon noch eine PerkinElmerMaschine kaufen, mehr nicht«, sagte Nilson abwehrend. »Sechzig Prozent der verheirateten oder sonst wie betroffenen Männer unter den Befragten glauben den Presseberichten nicht. Sie sind überzeugt, dass eine Frau Sex haben muss, um zum zweiten Mal schwanger zu werden. Wir stoßen da auf eine Mauer der Ablehnung und des Leugnens, sogar bei den Frauen. Vierzig Prozent aller verheirateten oder anderweitig betroffenen Frauen sagen, sie würden einen HerodesFetus abtreiben.«
»Das erzählen sie in den Umfragen«, murmelte Cross. »Sie würden sicher in großer Zahl den Weg des geringsten Widerstandes gehen. RU-486 hat sich bewährt, und seine Wirkung ist erwiesen.
Es könnte zum Hausmittel der Verzweifelten werden.«
»Aber es ist kein vorbeugendes Mittel«, sagte Jackson nervös.
»Von denen, die keine Abtreibungspille nehmen würden, sagt über die Hälfte, die Regierung wolle dem ganzen Land und vielleicht der ganzen Welt die allgemeine Abtreibung aufzwingen«, erklärte Nilson. »Wer den Namen ›Herodes-Grippe‹ auch erfunden hat, er hat die Situation mit Sicherheit noch verschärft.«
»Der stammt von Augustine«, sagte Cross. »Marge, uns steht eine große gesellschaftliche Katastrophe bevor: Unwissen in Verbindung mit Sex und toten Babys. Wenn viele SHEVAinfizierte Frauen mit ihren Partnern keinen Sex mehr haben — und dennoch schwanger werden —, werden wir nach Aussagen unserer Sozialwissenschaftler noch mehr Gewalt in der Ehe erleben, und die Zahl der Abtreibungen wird auch bei normalen Schwangerschaften gewaltig ansteigen.«
»Es gibt noch andere Möglichkeiten«, warf Kaye ein. »Die Folgen habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
»Weiter«, forderte Cross sie auf.
»Die Fälle in den Neunzigerjahren im Kaukasus. Massenmord.«
»Auch mit denen habe ich mich befasst«, sagte Nilson eifrig und blätterte in ihren Notizen. »Eigentlich wissen wir bis heute nicht viel darüber. SHEVA ist in der örtlichen Bevölkerung aufgetaucht …«
Kaye unterbrach sie. »Es ist viel zu kompliziert, als dass irgendjemand von uns es begreifen könnte«, sagte sie mit versagender Stimme. »Wir haben es hier nicht mit einem Krankheitsprofil zu tun, sondern mit der horizontalen Übertragung genetischer Anweisungen, und die Folge ist eine Übergangsphase.«
»Noch mal bitte. Ich verstehe nicht ganz«, sagte Nilson.
»SHEVA ist kein Krankheitserreger.«
»Quatsch«, erklärte Jackson erstaunt. Marge brachte ihn mit einer warnenden Handbewegung zum Schweigen.
»Wir ziehen immer noch Mauern um das Thema, aber jetzt halte ich es nicht mehr aus, Marge. Die Taskforce hat diese Möglichkeit von Anfang an geleugnet.«
»Ich weiß nicht, was da geleugnet wird«, entgegnete Cross, »Bitte in Kurzform, Kaye.«
»Wir sehen ein Virus, sogar eines, das aus uns selbst kommt, und nehmen an, es sei eine Krankheit. Wir betrachten alles unter Krankheitsgesichtspunkten.«
»Ich habe noch nie ein Virus kennen gelernt, das keine Probleme verursacht, Kaye«, sagte Jackson mit zusammengekniffenen Augen. Wenn er sie warnen wollte, dass sie sich auf sehr dünnes Eis begab, verfehlte er diesmal seine Wirkung.
»Wir haben die Wahrheit ständig vor Augen, aber sie passt nicht zu unseren primitiven Vorstellungen von der Wirkungsweise der Natur.«
»Primitiv?«, sagte Jackson. »Erzählen Sie das mal dem Pockenvirus.«
»Wenn uns das hier in dreißig Jahren zugestoßen wäre«, beharrte Kaye, »wären wir vielleicht darauf vorbereitet gewesen — aber bisher benehmen wir uns wie dumme kleine Kinder. Wie Kinder, die das richtige Leben noch nicht kennen gelernt haben.«
»Was übersehen wir denn?«, fragte Cross geduldig.
Jackson trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Darüber wurde schon diskutiert.«
»Worüber?«, wollte Cross wissen.
»Aber in keinem ernst zu nehmenden Forum«, sagte Kaye.
»Worüber bitte?«
»Kaye will uns sagen, SHEVA sei Teil einer größeren biologischen Umstrukturierung. Transposons, die herumhüpfen und den Phänotyp beeinflussen. So lautet das Gerücht bei den Eingeweihten, die Kayes Artikel gelesen haben.«
»Und das bedeutet?«
Jackson schnitt eine Grimasse. »Ich greife mal ein wenig vor.
Wenn wir zulassen, dass die neuen Babys geboren werden, wachsen sie alle zu großköpfigen Übermenschen heran. Wunderkinder mit blonden Haaren, blauen Augen und übersinnlichen Fähigkeiten. Die bringen uns dann um und übernehmen die Macht auf der Erde.«
Wie vor den Kopf gestoßen und den Tränen nahe, starrte Kaye zu Jackson hinüber. Er lächelte halb entschuldigend, halb in diebischer Freude darüber, dass er jede Diskussion abgewürgt hatte. »Es ist Zeitvergeudung«, sagte er. »Und wir haben keine Zeit zu vergeuden.«
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