Sie berät die Stämme. Gestern kam sie hier mit zwei Männern an.
Die Männer waren so … so blasiert, Mitch. Wie kleine Jungen, von denen einer höher pissen kann als der andere. Und dann sagen sie mir, ich würde Befunde fälschen, um meine Lügen zu begründen. Sie sagen, sie hätten Recht und Gesetz auf ihrer Seite.
Unser alter Fluch, das NAGPRA.«
Die Abkürzung bedeutete Native American Graves Protection and Repatriation Act — Gesetz zum Schutz und zur Repatriierung der Gräber amerikanischer Ureinwohner. Mitch war mit seinen Vorschriften in allen Einzelheiten vertraut.
Merton stand auf der rutschigen Böschung, versuchte, nicht abzugleiten, und ließ kleine, scharfe Blicke zwischen ihnen hin- und herwandern.
»Was für Befunde hast du denn gefälscht?«, fragte Mitch leichthin.
»Mach’ keine Witze.« Aber Rippers Gesicht entspannte sich, und sie hielt Mitchs Hand zwischen den ihren. »Wir haben Kollagen aus den Knochen entnommen und nach Portland geschickt.
Dort haben sie eine DNAAnalyse gemacht. Unsere Knochen gehören zu einer anderen Population. Mit den heutigen Indianern sind sie überhaupt nicht verwandt, und zu der Mumie von Spirit Cave besteht nur eine entfernte Beziehung. Weiße, wenn wir diesen ungenauen Ausdruck verwenden wollen. Aber wohl nicht nordisch. Eher Ainu, glaube ich.«
»Das ist ja von historischer Bedeutung, Eileen«, sagte Mitch.
»Großartig. Herzlichen Glückwunsch!«
Nachdem Ripper einmal zu reden angefangen hatte, konnte sie offenbar nicht mehr aufhören. Sie gingen den Pfad hinunter zu den Zelten. »Wir können sie nicht einmal ansatzweise mit den heutigen Rassen vergleichen. Deshalb ist es so empörend! Wir lassen zu, dass unsere verdrehten Vorstellungen von Rasse und Identität die Wahrheit vernebeln. Die Bevölkerungsgruppen waren damals völlig anders. Aber die heutigen Indianer stammen nicht von den Menschen ab, zu denen unsere Skelette gehören. Vielleicht standen sie in Konkurrenz zu den Vorfahren der Indianer und haben verloren.«
»Die Indianer haben gewonnen?«, fragte Merton. »Darüber müssten sie sich doch eigentlich freuen.«
»Sie glauben, ich wollte sie politisch auseinander dividieren. Wie es wirklich war, interessiert sie nicht. Sie wollen ihre eigene kleine Traumwelt und scheißen auf die Wahrheit.«
»Wem sagst du das?«, fragte Mitch.
Ripper lächelte unter den Tränen der Enttäuschung und Erschöpfung. »Man hat den Fünf Stämmen geraten, sie sollten sich an das Bundesgericht in Seattle wenden, um die Skelette zu bekommen.«
»Wo sind die Knochen jetzt?«
»In Portland. Wir haben sie auf der Stelle verpackt und gestern abtransportiert.«
»Über die Staatsgrenze?«, fragte Mitch. »Das ist Kidnapping.«
»Besser als herumzusitzen und auf eine Horde Anwälte zu warten.« Sie schüttelte den Kopf, und Mitch legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich wollte doch alles richtig machen, Mitch.« Sie wischte sich mit der staubigen Hand über die Wange, sodass Schmutzstreifen zurückblieben, und presste ein Lachen heraus.
»Jetzt sind sogar die Wikinger sauer auf uns!«
Die Wikinger — eine kleine Gruppe von Männern meist mittleren Alters, die sich selbst »Nordische Verehrer Odins in der Neuen Welt« nannten — waren Jahre zuvor auch zu Mitch gekommen, um ihre Zeremonien abzuhalten. Sie hatten gehofft, er könne ihre Behauptung beweisen, wonach Entdecker aus dem Norden vor Jahrtausenden große Teile Nordamerikas besiedelt hatten. Mitch mit seinem Hang zur Philosophie hatte ihnen gestattet, über den noch in der Erde liegenden Knochen des Pasco-Menschen ein Ritual zu feiern, aber letztlich musste er sie enttäuschen. Der Pasco-Menschen war in Wirklichkeit durch und durch Indianer, ein enger Verwandter der Südlichen Nadene.
Auch nachdem Ripper ihre Skelette untersucht hatte, waren die OdinVerehrer enttäuscht wieder abgezogen. In einer Welt, in der die Selbstgerechtigkeit leicht Risse erhalten konnte, wollte niemand gern die Wahrheit hören.
Als das Tageslicht schwand, brachte Merton eine Flasche Sekt, vakuumverpackten Lachs, frisches Brot und Käse zum Vorschein.
Ein paar von Rippers Studenten schichteten ein großes Lagerfeuer auf, das am Ufer knackte und knisterte, als Mitch und Eileen auf ihre gegenseitige Verrücktheit tranken.
»Woher haben Sie das Essen?«, fragte Ripper, als Merton die abgeschabten Plastikteller aus dem Lager auf dem rohen Kiefernholztisch unter dem größten Zeltdach verteilte.
»Vom Flughafen«, sagte Merton. »Der einzige Ort, an dem ich schnell etwas besorgen konnte. Brot, Käse, Fisch, Wein … was will man mehr? Allerdings könnte ich ein gutes Glas Bier gebrauchen.«
»Ich habe Coors im Wohnwagen«, erklärte ein stämmiger Praktikant mit schütterem Haar.
»Gräberfrühstück«, sagte Mitch zustimmend.
»Verschonen Sie mich damit«, erwiderte Merton. »Und bitte entschuldigen Sie, wenn ich überall nachgraben will. Jeder hat etwas zu berichten.« Ripper reichte ihm einen Plastikbecher mit Sekt. »Über Rasse und Zeit und Wanderungsbewegungen und was es heißt, ein Mensch zu sein. Wer möchte als Erster?«
Mitch wusste, dass er nur ein paar Sekunden schweigen musste, damit Ripper den Anfang machte. Als sie über die drei Skelette und die Lokalpolitik sprach, machte Merton sich Notizen. Eineinhalb Stunden später wurde es empfindlich kalt, und sie rückten näher ans Feuer.
»Die AltaiStämme haben etwas dagegen, dass Russen ihre Toten ausgraben«, sagte Merton. »Überall setzen sich die eingeborenen Volksgruppen zur Wehr. Ein Schlag auf die Finger der unterdrückerischen Kolonialherren. Glauben Sie, dass die Sprecher der Neandertaler schon dabei sind, in Innsbruck ihre Wachtposten aufzustellen?«
»Niemand will ein Neandertaler sein«, warf Mitch trocken ein, »außer mir.« Er wandte sich zu Eileen. »Ich habe von ihnen geträumt. Von meiner kleinen Kernfamilie.«
»Wirklich?« Eileen beugte sich verblüfft nach vorn.
»Ich habe geträumt, dass ihr Volk auf einem großen Floß auf einem See gelebt hat.«
»Vor fünfzehntausend Jahren?«, fragte Merton und hob eine Augenbraue.
Mitch hörte aus dem Tonfall des Journalisten etwas heraus und sah ihn argwöhnisch an. »Vermuten Sie das,«, fragte er, »oder haben die dort eine Datierung?«
»Keine, die sie an die Öffentlichkeit bringen«, sagte Merton und rümpfte die Nase. »Aber ich habe einen Kontaktmann an der Universität … und der sagt, sie hätten sich definitiv auf fünfzehntausend Jahre geeinigt. Das heißt« — er lächelte Ripper an — »wenn sie nicht gerade sehr viel Fisch gegessen haben.«
»Was sonst noch?«
Merton gestikulierte dramatisch. »Boxkämpfe«, sagte er. »Wütende Streitereien hinter verschlossenen Türen. Ihre Mumien widersprechen allem, was man bisher in Anthropologie und Archäologie wusste. Ein paar in der Arbeitsgruppe behaupten, sie seien keine Neandertaler im strengen Sinn; ein Wissenschaftler bezeichnet sie als neue Unterart Homo sapiens alpinensis. Ein anderer schwört Stein und Bein, sie seien grazile, späte Neandertaler, die in großen Gruppen lebten, allmählich weniger stämmig und robust wurden und mehr wie Sie und ich aussahen. Und was den Säugling angeht, suchen sie verzweifelt nach einer Ausrede.«
Mitch senkte den Kopf. Sie empfinden es nicht so wie ich. Sie wissen es nicht so wie ich. Dann lehnte er sich zurück und verdrängte seine Gefühle. Er musste sich ein gewisses Maß an Objektivität bewahren.
Merton wandte sich an Mitch. »Haben Sie das Baby gesehen?«
Mettons Augen verengten sich, als Mitch sich ruckartig in seinem Stuhl aufrichtete. »Nicht genau«, sagte er. »Ich habe nur gedacht, als sie sagten, es sei ein Jetztmenschenkind, dass …«
»Könnte es sein, dass die Neandertalermerkmale in den Zügen eines Säuglings noch nicht ausgeprägt sind?«, wollte Merton wissen.
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