Also keine Evolution. Mutter Natur hatte ihr Urteil gesprochen: Die Menschen waren eine bösartige Wucherung, ein Krebsgeschwür.
Einen schrecklichen Augenblick lang erschien dieser Gedanke sinnvoller als alles, worüber sie mit Dicken gesprochen hatte. Aber wie stand es dann mit den neuen Babys, mit den Kindern aus den Eizellen, die von den Zwischentöchtern abgegeben wurden? Waren sie genetisch geschädigt, sodass sie zwar scheinbar gesund geboren wurden, aber bald darauf starben? Oder würden sie wie die Zwischentöchter einfach schon im ersten Schwangerschaftsdrittel abgestoßen werden?
Kaye blickte durch die breiten, bis zum Boden reichenden Fenster auf die Stadt Baltimore. Auf den feuchten Dächern und auf dem Straßenasphalt glitzerte die Sonne des späten Vormittags. Sie malte sich aus, wie jede Schwangerschaft zu einer ebenso vergeblichen zweiten Schwangerschaft führte, wie Gebärmütter endlos mit entsetzlich entstellten Feten im ersten Schwangerschaftsdrittel blockiert waren.
Die Fortpflanzung der Menschen kommt zum Stillstand.
Wenn Judith Kushner Recht hatte, war dies das Totengeläut für die ganze Menschheit.
38
AmericolZentrale, Baltimore
28. Februar
Marge Cross stand, vom Publikum aus gesehen, links auf dem Podium; Kaye saß in einer Reihe mit sechs Wissenschaftlern und war bereit, Fragen über die öffentliche Erklärung zu beantworten.
Der Saal war mit vierhundertfünfzig Journalisten bis auf den letzten Platz besetzt. Laura Nilson, die PRChefin von Americol für den Osten der USA, eine junge, ehrgeizige Schwarze, zupfte am Saum ihrer eleganten, olivfarbenen Kostümjacke und nahm dann die Fragen entgegen.
Als Erster war der Medizin- und Wissenschaftsreporter von CNN an der Reihe. »Ich würde meine Frage gern unmittelbar an Dr. Jackson richten.«
Robert Jackson, Leiter des SHEVAImpfstoffprojekts bei Americol, hob die Hand.
»Dr. Jackson, wenn dieses Virus so viele Millionen Jahre für seine Evolution gebraucht hat, wie kann Americol dann schon nach dreimonatiger Forschung die Erprobung eines Impfstoffes ankündigen? Sind Sie klüger als Mutter Natur?«
Für kurze Zeit erhob sich im Saal eine Mischung aus Gelächter und geflüsterten Kommentaren. Man konnte die Spannung mit den Händen greifen. Die meisten jungen Frauen trugen Gesichtsmasken, obwohl sich diese Vorsichtsmaßnahme als unwirksam erwiesen hatte. Andere lutschten besondere PfefferminzKnoblauchpastillen, die angeblich die Ansteckung mit SHEVA verhindern sollten. Der charakteristische Geruch drang bis zu Kaye auf die Bühne.
Jackson ging zum Mikrofon. Der Fünfzigjährige sah aus wie ein rüstiger Rockmusiker: auf eine lässige Art attraktiv, mit oberflächlich gebügeltem Anzug und einer ungebändigten Frisur, die an den Schläfen grau wurde.
»Wir haben mit unseren Arbeiten schon einige Jahre vor der Herodes-Grippe begonnen«, sagte er. »Für die HERVSequenzen haben wir uns schon immer interessiert, denn wie Sie schon angedeutet haben, steckt darin eine ganze Menge Klugheit.« Er legte eine wirkungsvolle Pause ein, gönnte dem Publikum ein leichtes Lächeln und zeigte so seine Stärke, indem er Bewunderung für den Feind bekundete. »Vor allem aber haben wir in den letzten zwanzig Jahren gelernt, auf welche Weise die meisten Krankheiten ihr schmutziges Werk tun, wie die Erreger aufgebaut sind, wo man sie packen kann. Wir haben leere SHEVAPartikel konstruiert, die Versagerquote des Retrovirus damit auf hundert Prozent gesteigert und ein ungefährliches Antigen hergestellt. Aber streng genommen sind die Partikel nicht leer. Wir beladen sie mit einem Ribozym, einer Ribonucleinsäure mit Enzymaktivität. Das Ribozym dockt innerhalb der infizierten Zelle an mehrere noch nicht zusammengefügte Bruchstücke der SHEVARNA an und spaltet sie. SHEVA wird also zum Transportsystem für Moleküle, die seine eigene krankheitserzeugende Aktivität hemmen.«
»Sir …«, versuchte der CNN-Reporter zu unterbrechen. »Ich bin mit der Antwort auf Ihre Frage noch nicht fertig«, sagte Jackson. »Sie war nämlich wirklich gut.« Das Publikum kicherte. »Bisher hatten wir das Problem, dass der menschliche Organismus kaum auf das SHEVAAntigen anspricht. Den Durchbruch haben wir erzielt, als wir herausfanden, wie wir die Immunantwort verstärken können. Dazu heften wir Glycoproteine anderer Krankheitserreger an, gegen die der Organismus automatisch eine starke Abwehrreaktion in Gang setzt.«
Der CNN-Reporter wollte eine weitere Frage anschließen, aber Nilson war schon beim Nächsten auf ihrer langen Liste. Der junge Korrespondent der OnlineRedaktion von SciTrax erhob sich.
»Noch einmal an Dr. Jackson. Wissen Sie, warum wir so anfällig für SHEVA sind?«
»Nicht alle Menschen sind anfällig. Bei Männern beobachten wir eine starke Immunreaktion auf SHEVAPartikel, die sie nicht selbst erzeugen. Das ist der Grund für den Verlauf der Herodes-Grippe bei Männern — eine kurze Angelegenheit von etwa achtundvierzig Stunden, wenn überhaupt. Frauen dagegen sind fast durchweg anfällig für die Infektion.«
»Ja, aber warum gerade Frauen?«
»Wir gehen davon aus, dass SHEVA eine unglaublich langfristige Strategie verfolgt, in der Größenordnung von Jahrtausenden.
Es dürfte das erste bekannte Virus sein, das sich mit seiner eigenen Fortpflanzung nicht auf das Wachstum von Individuen stützt, sondern auf die Zunahme von Populationen. Eine starke Immunantwort auszulösen, würde seinen Zielen entgegenstehen, und deshalb taucht SHEVA nur dann auf, wenn eine Population unter Stress zu stehen scheint oder wenn ein anderer Auslöser hinzukommt, den wir noch nicht kennen.«
Als Nächster war der Wissenschaftskorrespondent der New York Times an der Reihe. »Dr. Pong und Dr. Subramanian, Sie haben sich auf die Erforschung der Herodes-Grippe in Südostasien spezialisiert, wo bisher über mehr als hunderttausend Fälle berichtet wurde. In Indonesien hat es sogar schon Unruhen gegeben. Letzte Woche kursierte ein Gerücht, wonach es sich um ein anderes Provirus handelt …«
»Völlig falsch«, sagte Subramanian mit einem höflichen Lächeln.
»SHEVA ist bemerkenswert einheitlich. Darf ich Sie ein wenig korrigieren? Als Provirus bezeichnet man VirusDNA, die in das genetische Material des Menschen eingebaut ist. Sobald sie ausgeprägt wird, handelt es sich einfach um ein Virus oder Retrovirus, in diesem Fall allerdings um ein sehr interessantes.«
Kaye war erstaunt, dass Subramanian sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Seite konzentrierte; ihr klang das herausstechende, Besorgnis erregende Wort »Unruhen« in den Ohren.
»Ja, aber meine nächste Frage lautet: Warum entsteht bei Männern eine starke Immunantwort gegen die Viren anderer Männer, aber nicht gegen ihre eigenen, wenn die Glycoproteine der Virushülle, die Antigene, so einfach und unveränderlich sind, wie Sie in Ihrer Pressemitteilung behaupten?«
»Eine sehr gute Frage«, erwiderte Dr. Pong. »Haben wir Zeit für ein ganztägiges Seminar?«
Schwaches Gelächter. Pong fuhr fort: »Nach unserer derzeitigen Kenntnis beginnt die Reaktion beim Mann, nachdem das Virus in die Zelle eingedrungen ist. Mindestens ein Gen von SHEVA enthält kleine Abweichungen oder Mutationen, die zur Produktion von Antigenen an der Oberfläche bestimmter Zellen führen, bevor die eigentliche Immunreaktion einsetzt, und damit stellt sich der Organismus darauf ein …«
Kaye hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Immer wieder musste sie an Mrs. Hamilton und die anderen Frauen in der NIHKlinik denken. Abschaltung der menschlichen Fortpflanzung. Auf jeden Fehlschlag würden heftige Reaktionen folgen; auf den Wissenschaftlern ruhte eine gewaltige, ständig zunehmende Last.
»Oliver Merton vom Economist. Frage an Dr. Lang.« Kaye blickte auf und sah einen jungen, rothaarigen Mann im Tweedjackett, der das drahtlose Mikrofon in der Hand hatte. »Nachdem jetzt alle Gene auf den verschiedenen Chromosomen, die SHEVA codieren, von Mr. Richard Bragg patentiert wurden …« Merton sah auf seine Notizen. »Aus Berkeley, Kalifornien, Patent Nummer 8.564.094, erteilt von der USBehörde für Patente und Warenzeichen am 27.
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