»Wissen Sie, was in Innsbruck los ist? Wussten Sie, dass die sich dort im Labor richtig geprügelt haben?«
Mitch nahm das Telefon wieder ans Ohr. »Nein.«
»Wussten Sie, dass sie Gewebeproben an Labors in anderen Ländern geschickt haben, um zu einer Art gemeinsamer Haltung zu kommen?«
»Neein«, sagte Mitch gedehnt.
»Ich würde Sie gern auf den neuesten Stand bringen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie hinterher wie ein junger Apfelbaum aufgehen oder was sonst so im Staat Washington blüht. Wenn ich Eileen sage, sie soll Sie anrufen und an die Grabungsstelle einladen, wenn ich ihr sage, dass Sie interessiert sind … Können wir uns treffen?«
»Warum treffen wir uns nicht einfach am Flughafen von Seattle?
Da kommen Sie doch an, oder?«
Merton machte ein lautes Geräusch mit den Lippen.
»Mr. Rafelson, ich kann nicht mit ansehen, dass Sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, ein bisschen Erde zu schnuppern und unter einer Zeltplane zu sitzen. Eine Gelegenheit, über die größte archäologische Sensation unserer Zeit zu sprechen.«
Mitch fand seine Armbanduhr und sah auf das Datum. »Na gut«, sagte er, »wenn Eileen mich einlädt.«
Er legte auf, ging ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und sah in den Spiegel.
Mehrere Tage lang hatte er in seinem Appartement Trübsal geblasen, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte die EMailAdresse und eine Telefonnummer von Christopher Dicken bekommen, aber er hatte noch nicht den Mut aufgebracht, ihn anzurufen. Sein Geld ging schneller zur Neige, als er erwartet hatte. Und bisher drückte er sich davor, seine Eltern wegen eines Darlehens anzugehen.
Er hatte sich gerade das Frühstück gemacht, da klingelte erneut das Telefon. Es war Eileen Ripper.
Nachdem Mitch mit ihr gesprochen hatte, setzte er sich kurz in den verschlissenen Sessel im Wohnzimmer. Dann stand er auf und sah aus dem Fenster auf den Broadway. Draußen wurde es hell. Er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Auf der Straße gingen die Menschen hin und her, an der roten Ampel vor dem Imbiss hielten die Autos.
Er rief zu Hause an. Seine Mutter nahm ab.
35
National Institutes of Health, Bethesda
»Das hat es auch schon früher gegeben«, sagte Dicken. Er brach ein Rosinenbrötchen in der Mitte durch und tauchte die eine Hälfte in den Schaum auf seinem Milchkaffee. Die riesige, moderne Cafeteria des NatcherBaues war um diese Zeit am Vormittag fast leer, und das Essen war hier besser als in der Kantine im Gebäude 10. Sie saßen an den hohen, getönten Fenstern ein ganzes Stück entfernt von den anderen Angestellten. »Genauer gesagt ist es in Georgien passiert, in oder bei Gordi.«
Kayes Mund formte sich zu einem O. »Mein Gott. Das Blutbad …«
Draußen brach die Sonne durch die tief hängenden Morgenwolken, sodass sich auf dem Gelände und in der Cafeteria Schatten und helle Flecken bildeten.
»Ihre Gewebe enthalten in allen Fällen SHEVA. Ich hatte nur Proben von drei oder vier, aber die hatten es alle.«
»Und das haben Sie Augustine nicht gesagt?«
»Ich habe mich auf die klinischen Befunde gestützt, auf die aktuellen Berichte aus den Krankenhäusern … Was würde es schon für eine Rolle spielen, wenn ich SHEVA ein paar Jahre zurückverlege, und zwar höchstens zehn? Aber vor zwei Tagen habe ich ein paar Akten aus einem Krankenhaus in Tiflis bekommen. Ich habe dort einem jungen Assistenzarzt zu ein paar Kontakten in Atlanta verhelfen. Er hat mir von Leuten im Gebirge erzählt. Die Überlebenden eines anderen Massakers, dieses Mal vor sechzig Jahren.
Während des Krieges.«
»Die Deutschen sind nie bis Georgien gekommen«, sagte Kaye.
Dicken nickte. »Es war Stalins Armee. Sie haben ein einsames Dorf am Kazbeg fast völlig ausgelöscht. Vor zwei Jahren hat man ein paar Überlebende gefunden. Die Regierung in Tiflis schützt sie. Vielleicht hatten sie die Säuberungen satt, vielleicht … vielleicht wussten sie überhaupt nichts von Gordi oder von den anderen Dörfern.«
»Wie viele Überlebende?«
»Ein Arzt namens Leonid Sugashvili hat einen kleinen Privatkreuzzug zur Aufklärung unternommen. Seinen Bericht hat der Assistenzarzt mir geschickt — veröffentlicht wurde er nie. Aber er ist ziemlich gründlich. Zwischen 1943 und 1991 wurden nach seiner Schätzung in Georgien, Armenien, Abchasien und Tschetschenien insgesamt etwa dreizehntausend Männer, Frauen und sogar Kinder getötet. Man brachte sie um, weil jemand sie für die Überträger einer Krankheit hielt, die bei schwangeren Frauen eine Fehlgeburt verursacht. Wer die erste Säuberung überlebte, wurde später ausfindig gemacht … weil die Frauen mutierte Kinder zur Welt brachten. Kinder mit Flecken im ganzen Gesicht, mit seltsamen Augen, Kinder, die gleich nach der Geburt schon sprechen konnten. In manchen Dörfern übernahm die örtliche Polizei das Morden. Aberglaube ist schwer auszurotten. Den Männern und Frauen — Müttern und Vätern — wurde vorgeworfen, sie hätten sich mit dem Satan verbündet. So viele waren es nicht — über vierzig Jahre hinweg. Aber … Sugashvili vermutet, dass es solche Fälle auch schon vor Jahrhunderten gegeben hat. Zehntausende von Morden. Schuldgefühle, Scham, Unwissen, Schweigen.«
»Glauben Sie, die Kinder sind wegen SHEVA mutiert?«
»Nach dem ärztlichen Bericht behaupteten viele der getöteten Frauen, sie hätten die sexuellen Beziehungen zu ihren Ehemännern oder Geliebten völlig eingestellt. Sie wollten keine Satanskinder zur Welt bringen. Sie hatten von den mutierten Kindern in anderen Dörfern gehört, und nachdem sie Fieber und eine Fehlgeburt gehabt hatten, wollten sie nicht noch einmal ein Kind. Aber fast alle Frauen waren dreißig Tage nach der Fehlgeburt wieder schwanger, ganz gleich, was sie getan oder gelassen hatten. Das Gleiche, was jetzt auch manche Krankenhäuser bei uns berichten.«
Kaye schüttelte den Kopf. »Das ist so völlig unglaublich!«
Dicken zuckte die Achseln. »Es wird auch nicht glaubhafter oder einfacher werden. Ich bin schon seit einiger Zeit überzeugt, dass SHEVA keine Krankheit im üblichen Sinne ist.«
Kaye presste die Lippen zusammen. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und verschränkte die Arme; ihr fiel die Unterhaltung mit Drew Miller in dem Restaurant in Boston ein, und wie Saul gesagt hatte, es sei an der Zeit, sich mit Evolution zu befassen. »Vielleicht ist es ein Zeichen«, sagte sie.
»Was für ein Zeichen?«
»Ein Schlüssel, der eine abgelegte genetische Information zugänglich macht, die Anweisungen für einen neuen Phänotyp.«
»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, sagte Dicken mit gerunzelter Stirn.
»Irgendetwas hat sich über Tausende, über Zehntausende von Jahren angesammelt. Vermutungen, Hypothesen, die mit diesem oder jenem Merkmal zu tun haben, Weiterentwicklungen eines ziemlich starren Bauplans.«
»Wozu?«, fragte Dicken.
»Evolution.«
Dicken schob seinen Stuhl zurück und legte die Hände auf die Schenkel. »Oha.«
»Sie haben selbst gesagt, es ist keine Krankheit«, erinnerte ihn Kaye.
»Ich habe gesagt, es ist keine Krankheit, wie ich sie kenne.
Aber es ist immerhin ein Retrovirus.«
»Sie haben doch meine Artikel gelesen, oder?«
»Ja.«
»Da habe ich ein paar Anspielungen fallen lassen.«
Dicken überlegte. »Ein Katalysator.«
»Er produziert es, wir bekommen es, wir leiden«, sagte Kaye.
Dicken errötete. »Ich versuche, keine MännerFrauenGeschichte daraus zu machen«, sagte er. »Von der Sorte haben wir ohnehin schon zu viel.«
»Tut mir Leid«, sagte Kaye. »Vielleicht versuche ich nur, die eigentliche Frage zu umgehen.«
Dicken war offenbar zu einer Entscheidung gelangt. »Ich überschreite jetzt meine Kompetenzen und zeige Ihnen etwas.« Er wühlte in seiner Reisetasche und brachte den Ausdruck einer EMail aus Atlanta zum Vorschein. Am Ende der Nachricht waren vier kleine Bilder angefügt.
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