Ich bin doch bloß ein großes Versuchskaninchen, oder?«
»Hört sich so an. Werden Sie gut versorgt?«
»Ich bekomme zu essen«, erwiderte sie mit einem Achselzucken.
»Das Essen ist gut. Die Bücher und Filme gefallen mir nicht. Die Schwestern sind nett, aber diese Dr. Lipton — die ist ein harter Brocken. Sie benimmt sich freundlich, aber ich glaube, in Wirklichkeit mag sie niemanden.«
»Ich bin überzeugt, dass sie gute Arbeit leistet.«
»Jaja, na gut, junge Frau, Miz Lang, setzen Sie sich mal ’ne Zeit lang hier hin, und dann sagen Sie noch mal, es gäbe nix zu meckern.«
Kaye lächelte.
»Es kotzt mich an, dieser schwarze Pfleger da, der behandelt mich immer wie’n Vorbild. Der will, dass ich so stark bin wie seine Mammi.« Sie sah Kay mit weit geöffneten Augen unverwandt an und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht stark sein. Ich will heulen, wenn sie die Untersuchungen machen, wenn ich an dieses Baby denke, Miz Lang. Kapiert?«
»Ja«, sagte Kaye.
»Es fühlt sich an wie bei den anderen um diese Zeit. Ich sage, vielleicht haben sie sich geirrt und es ist doch ein Baby. Bin ich deshalb doof?«
»Wenn sie die Untersuchungen gemacht haben, wissen sie genau Bescheid«, sagte Kaye.
»Nicht mal mein Mann darf mich besuchen. Steht im Vertrag.
Von ihm habe ich diese Grippe, und von ihm habe ich dieses Baby, aber er fehlt mir. Es war doch nicht seine Schuld. Ich rede am Telefon mit ihm. Er klingt ganz munter, aber er vermisst mich auch, das weiß ich. Macht mich nervös, dass ich weg bin, verstehen Sie?«
»Wer kümmert sich um Ihre Kinder?«, fragte Kaye.
»Mein Mann. Die Kinder dürfen mich besuchen kommen.
Mein Mann bringt sie her, und dann kommen sie rein zu mir, und er bleibt draußen im Auto. Vier Monate dauert es noch, vier Monate!« Mrs. Hamilton drehte den dünnen goldenen Ehering an ihrem Finger. »Er sagt, er ist so einsam, und die Kinder, mit denen ist es manchmal auch nicht einfach.«
Kaye fasste Mrs. Hamiltons Hand. »Ich weiß, wie tapfer Sie sind, Mrs. Hamilton.«
»Sagen Sie Luella zu mir«, erwiderte sie. »Und noch mal: Ich bin nicht tapfer. Wie heißen Sie mit Vornamen?«
»Kaye.«
»Ich hab’ Angst, Kaye. Wenn Sie rausfinden, was wirklich los ist, sagen Sie’s mir als Erstes, okay?«
Kaye ließ Mrs. Hamilton allein. Sie fühlte sich ausgedörrt, außerdem war ihr kalt. Dicken begleitete sie ins Erdgeschoss und aus der Klinik hinaus. Immer wenn sie es nicht bemerkte, sah er sie an.
Sie bat ihn, einen Augenblick stehen zu bleiben. Mit verschränkten Armen blickte sie über ein kurz geschnittenes Rasenstück hinweg zu einer kleinen Baumgruppe. Der Rasen war von Gräben umgeben. Das NIH Gelände war zum größten Teil ein Labyrinth aus Umleitungen und Baustellen, Löchern, die mit nackter Erde gefüllt waren, Beton und aufragenden Wäldern aus Moniereisen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Dicken.
»Nein«, sagte sie. »Ich bin niedergeschmettert.«
»Wir müssen uns daran gewöhnen. Es geschieht überall.«
»Die Frauen haben sich alle freiwillig gemeldet?«
»Natürlich. Wir zahlen die medizinische Behandlung und einen Tagessatz. Zu so etwas kann man selbst im Fall des nationalen Notstandes niemanden zwingen.«
»Warum dürfen die Ehemänner sie nicht besuchen?«
»Das dürfte meine Schuld sein«, sagte Dicken. »Auf unserer letzten Besprechung habe ich über Anhaltspunkte berichtet, wonach die Herodes-Grippe auch ohne sexuelle Betätigung zu einer zweiten Schwangerschaft führt. Die Mitteilung geht heute Abend an alle beteiligten Wissenschaftler.«
»Was für Anhaltspunkte? Du liebe Güte, reden wir hier von unbefleckter Empfängnis?« Kaye stemmte die Hände in die Hüften, drehte sich um und sah ihn durchdringend an. »Dieser Sache sind Sie auf der Spur, seit wir uns in Georgien kennen gelernt haben, stimmt’s?«
»Schon vor Georgien. Ukraine, Russland, Türkei, Aserbeidschan, Armenien. In diesen Ländern ist die Herodes-Grippe vor zehn, zwanzig Jahren ausgebrochen, vielleicht sogar noch früher.«
»Dann haben Sie meine Artikel gelesen, und auf einmal passte alles zusammen? Sie sind also so eine Art wissenschaftlicher Geheimagent?«
Dicken verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.«
»Und ich bin der Auslöser?«, fragte Kaye ungläubig.
»So einfach ist das nicht, Kaye.«
»Es wäre mir sehr Recht, wenn man mich auf dem Laufenden halten würde, Chris.«
»Christopher, bitte.« Er wirkte unangenehm berührt und kleinlaut.
»Es wäre mir sehr Recht, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten würden. Sie laufen hier ständig wie ein Schatten hinter mir her — was glauben Sie wohl, warum ich Sie für einen der wichtigsten Leute in der Taskforce halte?«
»Danke, aber das ist eine weit verbreitete Fehleinschätzung«, sagte er mit gequältem Lächeln. »Ich versuche, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, aber ich glaube, das gelingt mir nicht.
Manchmal, wenn die Belege stichhaltig sind, hören sie mir zu, und in diesem Fall ist es so — Berichte aus armenischen Krankenhäusern, sogar aus ein paar Kliniken in Los Angeles und New York.«
»Christopher, wir haben noch zwei Stunden bis zur nächsten Besprechung«, sagte Kaye. »Seit zwei Wochen hänge ich jetzt in Konferenzen über SHEVA. Die glauben, ich hätte da meine ökologische Nische gefunden. Ein gemütliches kleines Plätzchen, wo ich nach anderen HERV suchen kann. Marge hat mir in Baltimore ein hübsches Labor eingerichtet, aber … ich glaube nicht, dass die Taskforce mich wirklich gebrauchen kann.«
»Dass Sie zu Americol gegangen sind, hat Augustine wirklich durcheinander gebracht. Ich hätte Sie warnen sollen.«
»Also werde ich mich auf die Arbeit für Americol konzentrieren müssen.«
»Das wäre nicht schlecht. Die haben das Geld, und es sieht so aus, als ob Marge Sie mag.«
»Ich wüsste gern mehr darüber, wie es … an der Front aussieht?
Sagt man so?«
»An der Front«, bestätigte Dicken. »Manchmal sagen wir, jetzt gehen wir zu den richtigen Soldaten, zu denen, die krank werden.
Wir sind nur Arbeiter; sie sind die Soldaten. Für Leiden und Sterben sind vor allem sie zuständig.«
»Ich fühle mich wie ein Zaungast. Reden Sie überhaupt mit Außenstehenden?«
»Aber mit Vergnügen«, erwiderte Dicken. »Sie wissen doch, wogegen ich hier kämpfe, oder?«
»Gegen die Mühlen der Bürokratie. Die glauben, sie wüssten, was die Herodes-Grippe ist. Aber … eine zweite Schwangerschaft, und das ohne Sex!« Kaye spürte ein leichtes Frösteln.
»Das haben sie schon begriffen«, sagte Dicken. »Heute Nachmittag werden wir über einen möglichen Mechanismus reden. Sie wollen alle Karten auf den Tisch legen.« Er verzog das Gesicht wie ein kleiner Junge, der ein schlimmes Geheimnis verbirgt. »Wenn Sie allerdings Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann oder darf …«
Aufgebracht ließ Kaye die Hände von den Hüften fallen. »Und was sind die Fragen, die Augustine nicht stellt? Was ist, wenn wir völlig falsch liegen?«
»Genau das ist die Frage«, erwiderte Dicken. »Genau das, Kaye.
Ich wüsste, dass Sie es verstehen würden. Während wir über alle möglichen Wenns reden … Haben Sie etwas dagegen, dass ich Ihnen mein Herz ausschütte?«
Bei dieser Aussicht fuhr Kaye zurück.
»Wissen Sie, ich bewundere Ihre Arbeit so sehr …«
»Ich hatte Glück, und ich hatte Saul«, antwortete Kaye steif. Dicken wirkte verletzlich, und das mochte sie nicht. »Christopher, was um alles in der Welt verheimlichen Sie?«
»Es würde mich wundern, wenn Sie es nicht schon wüssten. Wir schrecken alle vor dem Offensichtlichen zurück — oder jedenfalls vor dem, was für ein paar von uns offensichtlich ist.« Mit zusammengekniffenen Augen forschte er aufmerksam in ihrem Gesicht.
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