»Was ist es dann?«, fragte Dicken.
»Es dürfte anfangs ein Fetus gewesen sein, aber fast alle inneren Organe sind stark unterentwickelt. Die Wirbelsäule hat sich nicht geschlossen — man könnte es als Spina bifida deuten, aber hier zweigt eine ganze Reihe von Nerven zu einer Follikelmasse ab, und die liegt an der Stelle, wo sonst die Bauchhöhle ist.«
»Follikel?«
»Wie ein Eierstock. Aber einer, der nur ein Dutzend Eizellen enthält.«
Dicken zog die Augenbrauen zusammen. Scarrys angenehm gedehnte Sprechweise passte zu seinem freundlichen Gesicht, aber es war ein eher trauriges Lächeln.
»Dann … wäre es also ein Mädchen geworden?«, fragte Dicken.
»Christopher, dieser Fetus wurde vorzeitig abgestoßen, weil er eine höchst seltsame Anordnung von Zellmaterial enthält. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Fehlgeburt war ein wahrer Segen. Es wäre wohl ein Mädchen geworden, aber irgendetwas ist schon in der ersten Schwangerschaftswoche ganz schrecklich schief gegangen.«
»Ich verstehe nicht -«
»Der Kopf ist schwer fehlgebildet. Das Gehirn ist nur ein kleiner Gewebeknoten am Ende eines verkürzten Rückenmarks. Ein Unterkiefer existiert nicht. Die Augenhöhlen öffnen sich nach der Seite wie bei einer jungen Katze. Der Schädel, oder was davon vorhanden ist, sieht fast aus wie der eines Halbaffen. Nach den ersten drei Wochen wäre keinerlei Gehirnfunktion möglich gewesen. Nach dem ersten Monat wäre kein Stoffwechsel in Gang gekommen. Dieses Ding funktioniert wie ein Organ, das Nährstoffe beansprucht, aber es hat keine Nieren, eine sehr kleine Leber, keinen Magen oder Darm, den man als solchen bezeichnen könnte … eine Art Herz, aber ebenfalls sehr klein. Die Extremitäten sind winzige, fleischige Verdickungen. Es ist kaum mehr als ein Eierstock mit Blutversorgung. Wo um alles in Welt kommt das her?«
»Crown City Hospital«, sagte Dicken, »aber hängen Sie es nicht an die große Glocke.«
»Ich schweige wie ein Grab. Wie viele von der Sorte hatten sie dort?«
»Ein paar«, erwiderte Dicken.
»Ich würde nach einer Quelle für starke Teratogene suchen.
Contergan ist nichts dagegen. Was auch die Ursache sein mag — das hier ist ein richtiger Albtraum.«
»Allerdings«, sagte Dicken und drückte sich die Finger auf den Nasenrücken. »Noch eine letzte Frage.«
»Gut. Und dann nehmen Sie es mit, damit ich in mein normales Leben zurückkehren kann.«
»Sie haben gesagt, es hat einen Eierstock. Würde der Eierstock funktionieren?«
»Die Eizellen waren ausgereift, wenn Sie das meinen. Und ein Follikel ist offensichtlich geplatzt. Das habe ich in meinem Bericht geschrieben …« Er blätterte ein paar Seiten durch und deutete dann ein wenig ungeduldig auf die Stelle — verärgert eher über die Natur als über mich, dachte Dicken. »Genau hier.«
»Wir haben es also mit einem Fetus zu tun, der einen Eisprung hatte, bevor er abgestoßen wurde?«, fragte Dicken ungläubig.
»Dass es so weit gekommen ist, bezweifle ich.«
»Die Plazenta haben wir nicht«, sagte Dicken.
»Wenn Sie eine bekommen, bringen Sie sie mir nicht«, erwiderte Scarry. »Mir gruselt es jetzt schon genug. Ach — noch eines.
Dr. Branch hat heute morgen ihre Gewebeanalyse abgegeben.«
Scarry schob ein einzelnes Blatt Papier über den Schreibtisch, wobei er es ein wenig anhob, damit die anderen Dinge nicht durcheinander gerieten.
Dicken nahm es in die Hand. »Du lieber Gott.«
»Glauben Sie, dass SHEVA so etwas anrichten kann?«, fragte Scarry und tippte auf den Befundbogen.
Branch hatte im Gewebe des Fetus eine hohe Konzentration von SHEVAPartikeln nachgewiesen — weit über eine Million Virusteilchen je Gramm. Die Partikel hatten den Fetus — oder wie man das bizarre Gebilde nennen wollte — geradezu überschwemmt; nur in der Follikelmasse, dem Eierstock, fehlten sie praktisch völlig.
An das Ende der Seite hatte sie einen kleinen Notizzettel geheftet.
Diese Partikel enthalten eine einzelsträngige RNA mit knapp 80000
Nucleotiden. Alle sind mit einem nicht identifizierten Proteinkomplex von über 12000 Kilodalton im Kern der Wirtszelle assoziiert. Das Virusgenom weist eine beträchtliche Homologie zu SHEVA auf. Bitte setzen Sie sich mit meinem Büro in Verbindung. Ich hätte gern frischeres Material für eine genaue PCR- und Sequenzanalyse.
»Na?«, beharrte Scarry, »wird es nun von SHEVA verursacht oder nicht?«
»Vielleicht«, erwiderte Dicken.
»Hat Augustine jetzt, was er braucht?«
In 1600 Clifton Road konnten sich Dinge schnell herumsprechen.
»Keinen Mucks zu irgendjemandem, Tom«, sagte Dicken. »Das meine ich wirklich so.«
»Aber nicht doch, Herr und Meister.« Scarry drückte seine Lippen mit den Fingern zusammen.
Dicken verstaute Bericht und Analysebefund in einem Ordner und sah auf die Uhr. Es war sechs. Möglicherweise befand sich Augustine noch in seinem Büro.
Auch sechs weitere Krankenhäuser in der Umgebung von Atlanta, die alle zu Dickens Netzwerk gehörten, berichteten über eine hohe Quote von Fehlgeburten mit ähnlichen Fetus-Überresten.
Die Mütter wurden immer häufiger auf SHEVA getestet — mit positivem Ergebnis.
Das würde die Leiterin des Gesundheitswesens auf jeden Fall wissen wollen.
Auf der Kieseinfahrt parkten ein leuchtend gelber FeuerwehrLkw und ein roter Rettungswagen. Die kreisenden roten und blauen Lichter erhellten blitzend den Schatten des Spätnachmittags, der über dem Haus lag. Kaye fuhr mit geweiteten Augen und feuchten Handflächen an dem Feuerwehrfahrzeug vorüber und parkte hinter dem Krankenwagen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Immer wieder flüsterte sie: »Oh Gott, Saul. Doch nicht jetzt.«
Von Osten zogen Wolken auf, legten sich vor die Nachmittagssonne und ragten wie eine graue Wand hinter den blitzenden Warnlichtern auf. Sie öffnete die Autotür, stieg aus und starrte zwei Feuerwehrleute an, die ihren Blick ausdruckslos erwiderten.
Eine schwächere, wärmere Brise fuhr sanft durch ihre Haare. Die Luft roch feucht und schwül; vielleicht würde es heute Abend noch ein Gewitter geben.
Ein junger Sanitäter kam näher. Er machte ein professionellbesorgtes Gesicht und hielt ein Klemmbrett in der Hand. »Mrs.
Madsen?«
»Lang«, erwiderte sie. »Kaye Lang. Die Ehefrau von Saul.« Sie drehte sich um, weil sie ihre Gedanken sammeln wollte. Erst jetzt bemerkte sie das Polizeiauto, das auf der anderen Seite des Feuerwehrwagens stand.
»Mrs. Lang, wir sind von einer Miss Caddy Wilson angerufen worden.«
Caddy stieß die Fliegentür am Eingang auf und kam, gefolgt von einem Polizeibeamten, auf die Veranda. Die Tür fiel hinter ihr mit hölzernem Krachen zu — ein vertrautes, freundliches Geräusch, das plötzlich unheilverkündend wirkte.
»Caddy!« Kaye winkte. Caddy stürzte die wenigen Stufen hinunter, den leichten Baumwollrock mit den Händen zusammengerafft; die blassblonden Haare wehten in Strähnen hinter ihr. Sie war Ende vierzig, schlank, hatte muskulöse Unterarme, die Hände eines Mannes und ein hübsches, ehrliches Gesicht. Die großen braunen Augen blickten jetzt besorgt auf Kaye, gleichzeitig wirkten sie leicht panisch wie bei einem Pferd, das gleich durchgehen wird.
»Kaye! Ich bin heute Nachmittag ins Haus gekommen, wie immer …«
Der Sanitäter unterbrach sie. »Mrs. Lang, Ihr Mann ist nicht im Haus. Wir haben ihn nicht gefunden.«
Caddy sah den jungen Mann gekränkt an, als stehe es nur ihr zu, die Geschichte zu erzählen. »Im Haus sieht es schrecklich aus, Kaye. Überall Blut …«
»Mrs. Lang, Sie sollten vielleicht zuerst mit der Polizei sprechen.«
»Bitte!«, schrie Caddy. »Sehen Sie denn nicht, wie erschrocken sie ist?«
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