Sechs Monate, Kaye. Nur noch ein halbes Jahr, dann können wir es für 75 Cents je Dosis an die Weltgesundheitsorganisation liefern. Für vierhundert Dollar kann man ein ganzes Wasserwerk behandeln. Ergibt einen hübschen Gewinn und rettet jeden Monat mehrere tausend Menschenleben.«
»Zur Kenntnis genommen«, sagte Kaye.
»Warum ist der Zeitpunkt immer so entscheidend?«, fragte Kim leise und schenkte sich noch eine Tasse Tee ein.
»Deine Arbeit hört hier nicht auf. Wenn wir eingehen, kannst du sie mitnehmen. Geh zu einer anderen Firma. Und nimm die Mäuse mit. Bitte.«
Kim lachte und runzelte dann die Stirn.
»Das ist ja geradezu krankhaft großzügig von dir. Und was ist mit euch? Wollt ihr in den sauren Apfel beißen und in den Schulden ertrinken oder lieber Konkurs anmelden und dann bei Squibb arbeiten? Du bekommst ohne weiteres Arbeit, Kaye, vor allem wenn du zuschlägst, bevor der Medienrummel nachlässt. Aber was ist mit Saul? Die Firma ist sein Lebenswerk.«
»Wir haben durchaus Möglichkeiten«, sagte Kaye.
Kim ließ die Mundwinkel besorgt herabsinken und legte die Hand auf Kayes Arm. »Wir alle kennen seine Phasen«, sagte sie.
»Macht es ihm zu schaffen?«
Daraufhin musste Kaye zittern, und sie schüttelte sich, als wollte sie alles Unerfreuliche von sich werfen. »Ich kann nicht über Saul sprechen, Kim, das weißt du.«
Kim hob die Arme. »Du lieber Gott, Kaye, vielleicht solltet ihr die Publicity nutzen und die Firma an die Börse bringen, Geld auftreiben. Helft uns noch über ein Jahr hinweg …«
Für Geschäftliches hatte Kim kaum ein Gespür. In dieser Hinsicht war sie untypisch: Die meisten Wissenschaftler in privaten Biotechnologiefirmen verstanden eine Menge vom Geschäft. Keine Dollars , keine Dollys , hatte sie einmal von einem Kollegen gehört.
»Wir könnten niemanden dazu bringen, uns bei einem Börsengang zu unterstützen«, sagte Kaye. »SHEVA hat mit EcoBacter nichts zu tun, jedenfalls im Augenblick nicht. Und Cholera ist DritteWeltKram. Das hat keinen Reiz, Kim.«
»Hat es nicht?«, fragte Kim und wedelte angewidert mit den Händen. »Na, was hat denn heutzutage Reiz in der großen alten Geschäftswelt?«
»Allianzen und hohe Gewinne und Aktienkurse«, erwiderte Kaye. Sie stand nahe bei einem der Mauskäfige und klopfte gegen die Kunststoffscheibe. Die Mäuse schreckten hoch und wackelten mit der Nase.
Kaye ging ins Labor 6, wo ihre eigenen Forschungsarbeiten zum größten Teil stattfanden. Die BacteriocinUntersuchungen hatte sie einen Monat zuvor ein paar Postdocs im Labor 5 anvertraut.
Labor 6 wurde derzeit eigentlich von Kayes Assistenten genutzt, aber die waren gerade auf einer Tagung in Houston; der Raum war abgeschlossen und dunkel.
Wenn sie sich nicht mit Antibiotika befasste, waren Henle-407-Gewebekulturen ihr Lieblingsobjekt, Zellen, die ursprünglich aus dem Darm stammten; mit ihrer Hilfe hatte sie verschiedene Aspekte des Säugergenoms untersucht und potenziell aktive HERV lokalisiert. Saul hatte sie dazu ermutigt, und das war möglicherweise falsch gewesen; sie hätte sich ausschließlich auf die BacteriocinForschung konzentrieren können, aber Saul hatte ihr versichert, sie sei ein Goldkind: Alles, was sie anfasste, würde der Firma von Nutzen sein.
Und jetzt hatte sie eine Menge Ruhm, aber kein Geld.
Die Biotechnologiebranche war, gelinde gesagt, unnachsichtig.
Vielleicht hatten sie und Saul schlicht und einfach nicht das, was man dazu brauchte.
Kaye saß mitten im Labor auf einem Bürostuhl, der aus irgendwelchen Gründen eine Rolle verloren hatte. Die Hände auf den Knien, beugte sie sich zur Seite, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Eine leise, hartnäckige Stimme im Hinterkopf sagte ihr, so könne es nicht weitergehen. Dieselbe Stimme warnte sie auch ständig, sie habe in ihrem Privatleben die falschen Entscheidungen getroffen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was sie hätte anders machen sollen. Saul war trotz allem nicht ihr Feind; er war keineswegs ein brutaler oder gewalttätiger Mann, sondern schlicht das Opfer eines tragischen biologischen Ungleichgewichts. Seine Liebe zu ihr war rein und ehrlich.
Was sie zu Tränen rührte, war diese hinterhältige innere Stimme, die darauf beharrte, sie könne sich aus der gegenwärtigen Situation befreien, Saul verlassen, von vorn anfangen; einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht. Sie konnte sich eine Stelle an einem Universitätsinstitut suchen, Mittel für ein zu ihr passendes Grundlagenforschungsprojekt beantragen und diesem blöden Mäusezirkus — im wahrsten Sinne des Wortes — entkommen.
Aber Saul war so liebevoll, so gut drauf gewesen, als sie aus Georgien zurückkam. Es schien, als habe der Aufsatz über Evolution sein Interesse an der Wissenschaft unabhängig vom Profit wieder geweckt. Und dann … die Rückschläge, die Entmutigung, die tödliche Spirale, die den bösen Saul neu erweckt hatten.
Mit dem, was sich vor acht Monaten abgespielt hatte, wollte sie sich nicht noch einmal auseinander setzen. Bei Sauls schlimmstem Zusammenbruch war auch sie an ihre Grenzen gestoßen. Nach seinen beiden Selbstmordversuchen war sie erschöpft und — mehr als sie es sich selbst eingestehen mochte — verbittert gewesen. In ihrer Fantasie hatte sie sich ausgemalt, mit anderen Männern zusammenzuleben, mit ruhigen, normalen Männern, mit Männern, die eher in ihrem Alter waren.
Von solchen Wünschen, solchen Träumen hatte sie Saul nie etwas gesagt; sie fragte sich, ob sie vielleicht selbst einen Psychiater aufsuchen sollte, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Saul hatte zigtausend Dollar für psychiatrische Behandlungen ausgegeben und sich fünf Mal einer medikamentösen Therapie unterzogen, wobei er ein Mal völlig die Sexualfunktion einbüßte und wochenlang nicht mehr klar denken konnte. Wunderarzneien halfen bei ihm nicht.
Was blieb ihnen noch, was blieb ihr noch an Reserven, wenn die Zeiten sich wieder änderten und sie den Guten Saul verlor? In schlechten Zeiten in seiner Nähe zu sein, hatte bei ihr auch an einer anderen Reserve gezehrt — an der spirituellen Reserve, die in ihrer Kindheit entstanden war, als die Eltern ihr gesagt hatten: Du bist selbst verantwortlich für dein Leben, für das, was du tust. Gott hat dir bestimmte Gaben mitgegeben, wunderbare Hilfsmittel …
Sie wusste, dass sie gut war; früher war sie selbstständig gewesen, stark, von sich überzeugt, und so wollte sie sich auch jetzt wieder fühlen.
Saul hatte einen äußerlich gesunden Körper und einen scharfen Verstand, aber zu manchen Zeiten konnte er, ohne dass es seine Schuld war, sein Dasein nicht mehr steuern. Was besagte das über Gott und die erhabene Seele, das Ich? Wenn schon ein paar chemische Stoffe so vieles durcheinander bringen konnten.
Kaye hatte zu der Sache mit Gott, zum Glauben nie eine starke Bindung gehabt. Der Anblick der Verbrechen in Brooklyn hatte ihren Glauben an jede Art von Märchenreligion zu stark strapaziert — strapaziert und dann ausgelöscht.
Aber ihr letzter spiritueller Halt, ihr letzter Anker in der Welt der Ideale, war die Überzeugung, dass jeder Mensch selbst über sein Verhalten bestimmt.
Sie hörte jemanden ins Labor kommen. Das Licht ging an. Als sie sich umdrehte, schabte der kaputte Stuhl über den Fußboden.
Es war Kim.
»Ach hier bist du!«, sagte sie mit bleichem Gesicht. »Wir haben dich schon überall gesucht.«
»Wo sollte ich sonst sein?«, fragte Kaye. Kim hielt ihr ein schnurloses Telefon hin. »Jemand ruft von eurem Haus aus an.«
18
Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta
»Mr. Dicken, das ist kein Baby. Es wäre niemals ein Baby geworden.«
Dicken überflog die Fotos und Analysen der Fehlgeburt aus dem Crown City Hospital. Tom Scarrys mitgenommener alter Metallschreibtisch stand seitlich in einem kleinen Zimmer mit blassblauen Wänden, das ansonsten mit Computerterminals vollgestellt war; es lag neben Scarrys Labor für Viruspathologie im Gebäude 15. Die Tischplatte war mit Disketten, Fotos und Ordnern voller Fachartikel übersät. Irgendwie gelang es Scarry, Ordnung in seinen Projekten zu halten; er war an den CDC einer der besten Gewebeanalytiker.
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