»Dann … sind wir aus dem Rennen«, sagte sie.
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Saul. Er schielte nach einem kurzen Sonnenstrahl. »Du hast mir noch nichts von dem Grab erzählt.«
Kaye errötete wie ein kleines Mädchen. »Nein«, sagte sie linkisch. »Habe ich nicht.«
»Und es stand auch nicht in der Zeitung.«
»Nein.«
Saul rückte mit seinem Stuhl zurück, griff nach der Tischkante, stand halb auf und machte mehrere schräge Liegestützen, wobei er den Blick auf die Tischplatte richtete. Als er mit dreißig Stück fertig war, setzte er sich wieder hin und wischte sich das Gesicht mit dem zusammengefalteten Papierhandtuch ab, das er als Serviette benutzte.
»Du lieber Gott, es tut mir Leid, Kaye«, sagte er mit rauer Stimme. »Weißt du, welche Gefühle mir das einjagt?«
»Was?«
»Dass meine Frau so etwas erlebt.«
»Du weißt doch, dass ich an der State University of New York forensische Medizin belegt hatte.«
»Trotzdem fühle ich mich komisch dabei.«
»Du willst mich beschützen«, sagte Kaye, legte ihre Hand auf seine und strich über seine Finger. Er zog den Arm langsam zurück.
»Vor allem Möglichen«, sagte Saul und wischte mit der Hand über den Tisch, als wollte er die ganze Welt einstreichen. »Vor Grausamkeit und Versagen. Vor Dummheit.« Sein Redefluss beschleunigte sich. »Es ist etwas Politisches. Wir sind verdächtig.
Wir haben uns mit den Vereinten Nationen verbündet. Lado kann sich nicht mit uns zusammentun.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass es so läuft, die Politik in Georgien«, erwiderte Kaye.
»Was, du bist mit der UNMannschaft dorthin gegangen und hast dich nicht gefragt, ob es uns schaden könnte?«
»Natürlich habe ich mich das gefragt.«
»Klar.« Saul nickte und bewegte dann den Kopf nach vorn und hinten, als wollte er eine Verspannung im Nacken lösen. »Ich werde noch ein paar Leute anrufen. Ich muss herausfinden, wann Lado seine Gespräche führt. Offensichtlich hat er nicht vor, uns zu besuchen.«
»Dann machen wir mit den Leuten von Evergreen weiter«, sagte Kaye. »Die haben eine Menge Knowhow, und manche Laborbefunde sind …«
»Das reicht nicht. Wir müssen mit dem Eliava konkurrieren und mit allen, die sich mit ihnen zusammentun. Sie werden als Erste die Patente bekommen und die Sachen auf den Markt bringen.
Sie werden das Kapital an Land ziehen.« Saul rieb sich am Kinn.
»Wir haben zwei Banken und ein paar Partner und … eine Menge Leute erwarten, dass wir es schaffen, Kaye.«
Kaye stand auf, und ihre Hände zitterten. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »aber das Grab — das waren Menschen , Saul. Irgendjemand musste helfen, damit man herausfinden konnte, wie sie gestorben sind.« Sie wusste, dass es nach Verteidigung klang, und das irritierte sie. »Ich war dabei. Ich habe mich nützlich gemacht.«
»Wärst du hingegangen, wenn man es dir nicht befohlen hätte?«, fragte Saul.
»Man hat es mir nicht befohlen. Jedenfalls nicht ausdrücklich.«
»Wärst du hingegangen, wenn es keine offizielle Angelegenheit gewesen wäre?«
»Natürlich nicht.«
Saul streckte die Hand aus, und sie griff wieder danach. Er hielt ihre Finger fast schmerzhaft fest, und dann wurden seine Augenlider schwer. Er ließ los, stand auf und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein.
»Kaffee hilft nicht, Saul«, sagte Kaye. »Sag’ mir, wie es dir geht.
Was du empfindest.«
»Mir geht’s gut«, erwiderte er abwehrend. »Das Medikament, das ich jetzt vor allem brauche, heißt Erfolg.«
»Das hat doch nichts mit dem Geschäft zu tun. Es ist wie die Gezeiten. Du hast mit deiner eigenen Ebbe zu kämpfen. Das hast du mir selbst gesagt.«
Saul nickte, sah sie aber nicht an. »Gehst du heute ins Labor?«
»Ja.«
»Ich ruf dich von hier aus an, wenn ich meine Nachforschungen angestellt habe. Wir setzen heute Abend in der Firma eine Besprechung mit den Arbeitsgruppenleitern an. Bestell Pizza. Und ein Fässchen Bier.« Er machte einen heldenhaften Versuch zu lächeln.
»Wir brauchen eine Rückzugsposition, und zwar schnell«, sagte er.
»Ich werde nachsehen, wie die neuen Arbeiten laufen«, sagte Kaye. Sie wussten beide, dass Gewinne aus den derzeitigen Projekten einschließlich der BacteriocinForschung noch mindestens ein Jahr auf sich warten lassen würden. »Wie schnell werden wir …«
»Lass das meine Sorge sein«, fiel Saul ihr ins Wort. Er schlich sich mit einer krebsartigen Bewegung zu ihr, wackelte mit den Schultern und machte sich über sich selbst lustig, wie nur er es konnte. Dann umarmte er sie mit einem Arm und ließ das Gesicht auf ihre Schulter sinken. Sie streichelte seinen Kopf.
»Ich finde es furchtbar«, sagte er. »Ich finde es ganz, ganz furchtbar, wenn ich so bin.«
»Du bist sehr stark, Saul«, flüsterte Kaye ihm ins Ohr.
»Du bist meine Stärke«, sagte er, schob sie weg und rieb sich die Wange wie ein kleiner Junge, der gerade geküsst worden ist. »Ich liebe dich mehr als mein Leben, Kaye, und das weißt du. Mach’ dir meinetwegen keine Sorgen.«
Einen kurzen Augenblick lang lag eine einsame, urtümliche Wildheit in seinem Blick, als sei er in die Enge getrieben und könne sich nirgendwo verstecken. Dann war es vorüber, seine Schultern sanken herab, und er zuckte die Achseln.
»Es geht mir gut, Kaye. Wir werden es schon schaffen. Ich muss nur ein paar Telefonate führen.«
Debra Kim war eine schlanke Frau mit breitem Gesicht und einem dichten Schopf schwarzer Haare. Sie war Eurasierin und neigte dazu, auf stille Weise ihre Autorität geltend zu machen. Mit Kaye kam sie sehr gut aus, aber gegenüber Saul und den meisten anderen Männern war sie reizbar.
Kim leitete das CholeraQuarantänelabor bei EcoBacter mit einer eisernen Hand, die im Samthandschuh steckte. Ihr Labor, das zweitgrößte der ganzen Firma, arbeitete nach der biologischen Sicherheitsstufe 3, aber damit sollten eher Kims übersensible Mäuse als die Angestellten geschützt werden, auch wenn mit Cholera nicht zu spaßen war. Für ihre Forschung benutzte sie die schwer immungeschädigten SCIDMäuse, deren Immunsystem gentechnisch ausgeschaltet war.
Kim führte Kaye durch das Arbeitszimmer im äußeren Bereich des Labors und bot ihr eine Tasse Tee an. Sie unterhielten sich ein paar Minuten über Nebensächliches und blickten dabei durch eine Acrylglasscheibe auf die an einer Wand aufgereihten sterilen Spezialbehälter aus Kunststoff und Edelstahl mit den darin herumwuselnden Mäusen.
Kim wollte ein wirksames, auf Phagen aufbauendes Therapieverfahren für Cholera finden. Den SCIDMäusen hatte man menschliches Darmgewebe eingepflanzt, das sie nicht abstoßen konnten.
Damit wurden sie zu kleinen Modellen für eine Cholerainfektion beim Menschen. Das Projekt hatte schon mehrere hunderttausend Dollar gekostet und nur magere Ergebnisse gebracht, aber noch ließ Saul es weiterlaufen.
»Nicki im Personalbüro sagt, wir haben vielleicht noch drei Monate«, sagte Kim ohne Vorwarnung. Sie setzte ihre Tasse ab und sah Kim mit gezwungenem Lächeln an. »Stimmt das?«
»Wahrscheinlich«, sagte Kaye. »Drei oder vier. Es sei denn, wir kriegen die Partnerschaft mit dem Eliava-Institut unter Dach und Fach. Das hätte so viel Reiz, dass wir neues Kapital auftreiben könnten.«
»Scheiße«, sagte Kim. »Ich habe letzte Woche ein Angebot von Procter and Gamble abgelehnt.«
»Ich hoffe, du hast noch nicht alle Brücken abgebrochen«, erwiderte Kaye.
Kim schüttelte den Kopf. »Ich bin gern hier, Kaye. Mit dir und Saul würde ich lieber weiterarbeiten als mit jedem anderen. Aber ich werde nicht jünger und habe noch ein paar ziemlich ehrgeizige Projekte im Kopf.«
»Das haben wir alle«, sagte Kaye.
»Ich bin ziemlich dicht davor, eine zweigleisige Therapie zu entwickeln.« Kim ging zum Acrylfenster. »Ich habe die genetische Verbindung zwischen Endotoxinen und Adhesinen gefunden. Die cholerae- Zellen heften sich an unsere kleinen Darmschleimhautzellen und machen sie besoffen. Dagegen wehrt sich der Körper, indem er die Schleimhaut abstößt. Reiswasserstuhl. Ich kann einen Phagen mit einem Gen herstellen, das bei den Cholerabakterien die Pilinproduktion abschaltet. Dann stellen sie zwar noch das Toxin her, aber nicht die Pili, und deshalb können sie sich nicht mehr an die Schleimhautzellen heften. Wir applizieren Kapseln mit den Phagen an den cholerainfizierten Bereichen, und das war’s. Man kann sie sogar bei der Wasseraufbereitung einsetzen.
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