Mitch tigerte durch das Zimmer und nippte an einer Tasse mit schlechtem Automatenkaffee. Das kalte blaue Neonlicht hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Ihm war, als hätte er nie die Sonne scheinen sehen. Seine Augenbrauen juckten schrecklich. In die Höhle gehen. Überwintern, und sie bringt das Kleine zur Welt, während wir schlafen. So machen es die Bären. Bei Bären spielt sich die Evolution im Schlaf ab. Das ist der bessere Weg.
Während er sich entspannte, blieb Sue bei Kaye. Mitch ging ins Freie und blieb unter dem klaren Sternenhimmel stehen. Selbst hier draußen, wo nur wenige Menschen unterwegs waren, blendete ihn eine Straßenlaterne und beschnitt die Unendlichkeit des Universums.
Lieber Gott, jetzt bin ich so weit gekommen, und nichts hat sich verändert. Ich bin verheiratet, ich werde Vater, aber ich habe immer noch keine Arbeit und lebe von …
Er schnitt den Gedankengang ab, schwenkte die Arme und schüttelte das nervöse Zittern nach dem Kaffee ab. Seine Gedanken schweiften hierhin und dorthin: zu seinem ersten sexuellen Erlebnis — mit der Sorge, das Mädchen könne schwanger werden —, zu seinen Gesprächen mit dem Direktor des Hayer Museum, bevor er entlassen wurde, bis zu Jack, der alles aus dem Blickwinkel der Indianer betrachten wollte.
Mitch hatte nur einen Blickwinkel: den wissenschaftlichen. Sein ganzes Leben lang hatte er sich darum bemüht, objektiv zu sein, sich selbst aus der Gleichung herauszuhalten, mit klarem Blick zu sehen, was bei seinen Grabungen ans Licht kam. Er hatte Teile seines Lebens gegen vermutlich unzureichende Kenntnisse über das Leben verstorbener Menschen eingetauscht. Jack glaubte an einen Kreislauf des Lebens, in dem letztlich niemand allein war.
Mitch konnte das nicht nachvollziehen. Aber er hoffte, dass Jack Recht hatte.
Die Luft duftete gut. Am liebsten hätte er Kaye hier ins Freie gebracht, damit sie die frische Luft riechen konnte, aber dann fuhr ein Kleinlastwagen vorüber, und es stank nach Abgasen und verbranntem Öl.
Kaye döste zwischen den Wehen immer nur für ein paar Minuten ein. Es war zwei Uhr morgens, und immer noch hatte sich der Muttermund nur fünf Zentimeter weit geöffnet. Chambers hatte sie vor ihrem kleinen Schläfchen untersucht, sich das Wehenschreiberprotokoll angesehen und beruhigend gelächelt. »Wir werden es bald mit ein bisschen Oxytocin versuchen. Dann geht es schneller. Wir nennen es Schmierseife für Babys.« Aber Kaye verstand nicht, was er damit meinte, da sie nicht wusste, was Bardahl war.
Mary Hand nahm ihren Arm, wischte ihn mit Alkohol ab, suchte nach einer Vene und stach eine Kanüle hinein, die sie mit einem Heftpflaster befestigte. Sie schloss einen Plastikschlauch an und hängte eine Flasche mit physiologischer Kochsalzlösung an ein Gestell. Dann stellte sie kleine Medikamentenfläschchen auf das mit blauem Wegwerfpapier ausgelegte Edelstahltablett neben dem Bett.
Normalerweise hatte Kaye etwas gegen Spritzen und Infusionen, aber jetzt waren sie eine Kleinigkeit im Vergleich zu ihren sonstigen Qualen. Obwohl Mitch unmittelbar an ihrer Seite war, ihr den Hals massierte und neues Eis brachte, hatte sie das Gefühl, als rücke er immer mehr in die Ferne. Immer stärker sah sie in ihm nicht mehr den Ehepartner oder Geliebten, sondern einfach einen Mann, eine der Gestalten, die in ihrem bedrückten, zusammengedrängten, endlosen Leben kamen und gingen. Als er mit der Hebamme sprach, runzelte sie die Stirn und betrachtete seinen Rücken. Sie versuchte sich zu konzentrieren und sich ihre Gefühle für ihn ins Bewusstsein zu rufen, um ihn in dieses Puzzle einzufügen, aber da war nichts als Leere. Für Zwischenmenschliches war sie jetzt nicht empfänglich.
Wieder eine Wehe. »Au, Scheiße!«, schrie sie.
Mary Hand untersuchte sie und machte ein besorgtes Gesicht.
»Hat Dr. Chambers gesagt, wann er das Oxytocin geben will?«
Unfähig zu antworten, schüttelte Kaye nur den Kopf. Mary Hand ging hinaus und suchte Chambers. Mitch blieb bei Kaye.
Sie schloss die Augen und stellte fest, dass das Universum in ihrer privaten Dunkelheit sehr klein war und dass sie darüber fast in Panik geriet. Sie wollte, dass es vorüber war. Keine Menstruationskrämpfe hatten jemals die Kraft ihrer Wehen gehabt. Irgendwann während der Kontraktionen dachte sie, der Rücken müsste ihr brechen.
Jetzt wusste sie, dass das Fleisch alles und der Geist nichts war.
»Alle Menschen werden so geboren«, sagte Sue zu Mitch. »Es ist schön, dass du hier bist. Jack hat mir versprochen, bei meiner Entbindung auch dabei zu sein, aber eigentlich ist es bei uns nicht üblich.«
»Frauensache«, sagte Mitch. Sues Maske faszinierte ihn. Sie stand auf und streckte sich. Mit ihrer Größe und dem auffälligen, aber nicht unförmigen Bauch sah sie aus wie der Inbegriff weiblicher Stärke. Selbstsicher, ruhig, philosophisch.
Kaye stöhnte. Mitch beugte sich über sie und streichelte ihr die Wange. Sie lag auf der Seite und versuchte, eine bequeme Körperhaltung zu finden. »Lieber Gott, gebt mir Medikamente«, sagte sie mit schwachem Lächeln.
»Du hattest schon immer einen Sinn für Humor.«
»Ich meine es ernst. Nein, ich meine es nicht ernst. Ich weiß nicht, was ich meine. Wo ist Felicity?«
»Vor ein paar Minuten ist Jack vorbeigekommen. Er hat ein paar Lastwagen losgeschickt, aber bisher hat er nichts von ihnen gehört.«
»Ich brauche Felicity. Was Chambers denkt, weiß ich nicht.
Gebt mir was, damit es endlich vorwärts geht.«
Mitch fühlte sich entsetzlich hilflos. Sie waren der abendländischen Schulmedizin ausgeliefert — in der Form, die sie bei der Konföderation der Fünf Stämme hatte. In seinem Innersten hatte er zu Chambers keinerlei Vertrauen.
»Au, verdammte SCHEISSE!«, schrie Kaye und drehte sich auf den Rücken. Ihr Gesicht war so verzerrt, dass Mitch es kaum noch wiedererkannte.
Sieben Uhr. Kaye sah mit halb geschlossenen Augen auf die Uhr an der Wand. Schon über zwölf Stunden. Sie wusste nicht mehr, wann sie angekommen waren. War es nachmittags gewesen? Ja.
Schon über zwölf Stunden. Noch kein Rekord. Als sie klein war, hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass sie bei ihr mehr als dreißig Stunden in den Wehen gelegen hatte. Ich denk’ an dich, Mutter.
Du lieber Himmel, könntest du doch hier sein!
Sue war nicht im Zimmer. Mitch war da, bewegte ihren Arm, linderte die Verspannung, nahm den anderen Arm. Sie spürte eine entfernte Zuneigung zu ihm, aber sie hatte ernsthaft Zweifel, ob sie noch einmal mit ihm schlafen würde. Warum überhaupt daran denken? Sie fühlte sich wie ein riesiger Ballon, der jeden Augenblick platzen konnte. Sie musste Wasser lassen, der Gedanke war gleichbedeutend mit dem Tun, und es kümmerte sie nicht. Mary Hand erneuerte die durchgeweichte Zellstoffunterlage.
Dr. Chambers kam herein und sagte Mary, sie solle jetzt das Oxytocin geben. Mary verband die Flasche mit dem richtigen Schlauch und stellte die Dosierpumpe für die Infusion ein. Kaye verfolgte die Prozedur mit größter Aufmerksamkeit. Bardahl für Babys. Sie erinnerte sich dunkel an die Liste der Peptide und Glykoproteine, die Judith in dem großen Proteinkomplex gefunden hatte. Schlechte Nachrichten für Frauen. Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Die Welt bestand nur noch aus Schmerzen. Wie eine kleine, betäubte Fliege auf einem riesigen Gummiball hockte Kaye auf diesen Schmerzen. Vage bekam sie mit, wie der Anästhesist sich um sie herum bewegte. Sie hörte, wie Mitch und der Arzt miteinander sprachen. Mary Hand war auch dabei.
Chambers sagte etwas völlig Nebensächliches, etwas über Nabelschnurblut, das man aufbewahren sollte, falls das Baby es später brauchte, oder falls man es für die Wissenschaft verwenden konnte — Nabelschnurblut, reich an Stammzellen.
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