Felicity war mit der Wundversorgung fertig. Chambers wies Mary an, alle Tücher und Einmalartikel in einen Sondermüllsack zu werfen, damit sie verbrannt werden konnten. Mary gehorchte schweigend.
»Sie ist ein Wunder«, sagte Mitch.
Beim Klang seiner Stimme wandte das Mädchen den Kopf in seine Richtung, öffnete die Augen und versuchte ihn ausfindig zu machen.
»Das ist dein Papa«, sagte Kaye. Aus ihrer Brustwarze tropfte dicke, gelbe Vormilch. Das Mädchen senkte den Kopf und saugte sich auf einen kleinen Druck von Kayes Finger hin wieder fest.
»Sie hat den Kopf gehoben«, stellte Kaye staunend fest.
»Sie ist wunderschön«, sagte Sue. »Herzlichen Glückwunsch.«
Felicity sprach kurz mit Sue, während Kaye, Mitch und das Baby sich in dem taghellen Fleck unter der Operationsleuchte zusammendrängten.
»Sie ist da«, sagte Kaye.
»Sie ist da«, bestätigte Mitch.
»Wir haben es geschafft.«
»Du hast es geschafft.«
Wieder hob ihre Tochter den Kopf und öffnete die Augen, dieses Mal ganz weit.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Chambers. Felicity beugte sich weit vor und stieß fast mit Sues Kopf zusammen.
Mitch erwiderte fasziniert den Blick seiner Tochter. Sie hatte gelblichbraune Augen mit goldenen Punkten darin. Er beugte sich vor. »Da bin ich«, sagte er zu dem Baby.
Kaye wollte ihr wieder die Brustwarze zeigen, aber die Kleine leistete Widerstand und bewegte den Kopf mit erstaunlicher Kraft.
»Hallo Mitch«, sagte seine Tochter. Ihre Stimme hörte sich an wie das Miauen einer jungen Katze, fast wie ein Fiepen, aber die Worte waren deutlich zu verstehen.
Mitchs Nackenhaare sträubten sich. Felicity Galbreath keuchte und zuckte zurück, als hätte man sie gestochen.
Mitch stützte sich auf die Bettkante und stand auf. Er zitterte.
Einen Augenblick lang fühlte er sich von dem Säugling, der da auf Kayes Brust lag, überfordert. Es kam nicht unerwartet, aber es schien ihm falsch. Er wollte weglaufen. Und doch konnte er den Blick nicht von dem kleinen Mädchen wenden. Wärme stieg in seiner Brust hoch. Irgendwie rückte die Form ihres winzigen Gesichts in den Mittelpunkt. Es sah aus, als wollte sie noch einmal sprechen: Die Lippen, klein und rosa, schoben sich nach vorn und dann zur Seite. Im Mundwinkel erschien eine milchiggelbe Blase.
Auf ihren Wangen und Brauen tauchten kleine Sprenkel in der Farbe von Rehkitz und Löwe auf.
Sie drehte den Kopf und sah Kaye an. Die Haut zwischen ihren Augen legte sich in verwunderte Falten.
Mitch Rafelson streckte seine große, grobknochige Hand mit den schwieligen Fingern aus und wollte das kleine Mädchen berühren. Er beugte sich nach vorn, küsste erst Kaye, dann das Baby, und streichelte unglaublich sanft ihre Schläfen. Mit einer Berührung seines Daumens lenkte er die rosafarbenen Lippen wieder zur Brustwarze. Die Kleine gab ein tiefes Seufzen von sich, ein kleines, pfeifendes Geräusch, und mit einer Körperdrehung bekam sie wieder die Brust ihrer Mutter zu fassen, wo sie energisch saugte.
An ihren Händen bewegten sich vollkommen geformte, goldbraune Finger.
Mitch rief Sam und Abby in Oregon an, um ihnen die freudige Nachricht mitzuteilen. Er konnte kaum richtig zuhören, was sie sagten — die zitternde Stimme seines Vaters, das durchdringende, freudigerleichterte Kreischen seiner Mutter. Nachdem sie sich eine Zeit lang unterhalten hatten, erklärte Mitch, er könne sich kaum noch auf den Beinen halten. »Wir brauchen Schlaf«, sagte er.
Kaye und das Baby waren schon eingenickt. Chambers sagte, sie sollten noch zwei Tage in der Klinik bleiben. Mitch erkundigte sich, ob man ihm ein Feldbett in das Zimmer bringen könne, aber Felicity und Sue überzeugten ihn, dass alles in Ordnung sei.
»Geh’ nach Hause und ruh’ dich aus«, sagte Sue. »Den beiden geht es gut.«
Mitch trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Ihr ruft an, wenn es Schwierigkeiten gibt?«
»Klar rufen wir an«, sagte Mary Hand, die gerade mit einem Wäschesack vorbeikam.
»Zwei Freunde von mir bleiben tagsüber vor der Klinik«, erklärte Jack.
»Ich muss heute irgendwo übernachten«, warf Felicity ein. »Ich möchte sie mir morgen noch einmal ansehen.«
»Sie können bei uns wohnen«, schlug Jack vor.
Als Mitch mit den anderen vom Krankenhaus zu seinem Toyota ging, schlotterten ihm die Knie.
Im Wohnwagen angekommen, schlief er den ganzen Nachmittag und Abend. Als er aufwachte, war es fast dunkel. Er kniete sich auf das Sofa und starrte durch das große Fenster auf Sträucher, Kies und weit entfernte Hügel.
Dann duschte er, rasierte sich und zog sich an. Anschließend suchte er nach Dingen, die Kaye vielleicht vergessen hatte und jetzt für sich und das Baby brauchte.
Er betrachtete sich im Badezimmerspiegel.
Weinte.
In der angenehmen Abenddämmerung ging er zu Fuß zur Klinik. Die reine, klare Luft duftete nach Salbei, Gras und Staub, nach dem Wasser eines kleinen Baches. Er kam an einem Haus vorüber, wo vier Männer gerade den Motor aus einem alten Ford ausbauten; dazu hatten sie an einer Eiche einen Kettenzug aufgehängt. Die Männer nickten ihm zu und blickten dann schnell zur Seite. Sie kannten ihn und wussten, was geschehen war. Und sie hatten sowohl ihm als auch dem Ereignis gegenüber ein ungutes Gefühl. Er beschleunigte seinen Schritt. Seine Augenbrauen juckten, und jetzt fing es auch auf den Wangen an. Die Maske saß sehr locker. Sie würde sich bald lösen. Er spürte, wie seine Zunge an der Mundinnenseite rieb; es fühlte sich anders an. Auch sein Kopf fühlte sich anders an.
Vor allem wollte er Kaye und das Baby wiedersehen, das Mädchen, seine Tochter. Er wollte sich überzeugen, dass alles Wirklichkeit war.
Die Hochzeitsgesellschaft hatte sich fast über den ganzen zweitausend Quadratmeter großen Garten verteilt. Es war ein warmer, dunstiger Tag; Sonne und Wolkenflecken wechselten sich ab.
Mark Augustine stand vierzig Minuten lang neben seiner Braut in der Reihe der Gastgeber, lächelte, schüttelte Hände, tauschte förmliche Umarmungen aus. Senatoren und Kongressabgeordnete gingen höflich plaudernd an der Reihe entlang. Männer und Frauen in uniformer schwarzweißer Livree trugen Tabletts mit Champagner und Häppchen über den Rasen, der so gepflegt wie ein Golfplatz wirkte. Augustine sah seine Braut mit festgefrorenem Lächeln an; er wusste genau, was er in seinem Innersten empfand: Liebe, Erleichterung und Erfüllung, alles leicht unterkühlt. Den Gästen und den wenigen Journalisten, die in der Presselotterie ein Siegerlos gezogen hatten, zeigte er ein ruhiges, warmherzig liebendes, pflichtbewusstes Gesicht.
Aber ihm war den ganzen Tag, selbst während der Trauungszeremonie, etwas durch den Kopf gegangen. Er hatte sogar die einfache Gelöbnisformel durcheinander gebracht und damit in den ersten Reihen der Kapelle leises Gelächter ausgelöst.
Jetzt wurden lebende Babys geboren. In den Quarantänekliniken, in den speziell dazu bestimmten Krankenhäusern der Taskforce und sogar in Privathäusern kamen neuartige Kinder zur Welt.
Der Gedanke, er könne Unrecht haben, war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war, und hatte ihn nur wenig gejuckt. Bis er gehört hatte, dass Kaye Langs Kind am Leben war, entbunden durch eine Ärztin, die sich an den Notstandsbekanntmachungen der Centers for Disease Control orientiert hatte, an den epidemiologischen Studien jener Arbeitsgruppe, die auf seine Anordnung hin eingerichtet worden war. Besondere Methoden, besondere Vorsichtsmaßnahmen; die Kinder waren eben anders.
Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatten allein stehende Mütter oder Eltern, denen die Taskforce nicht auf die Spur gekommen war, vierundzwanzig SHEVASäuglinge an staatlichen Krankenhäusern ausgesetzt.
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