Anonyme, lebendige Findelkinder, die er nun in seiner Obhut hatte.
Die Begrüßung der Gäste war zu Ende. Seine Füße schmerzten in den engen Gesellschaftsschuhen, aber er umarmte seine Braut, flüsterte ihr etwas ins Ohr und bedeutete Florence Leighton mit einer Geste, ihm ins Haus zu folgen.
»Was haben uns die von Allergy and Infectious Diseases geschickt?«, fragte er. Mrs. Leighton öffnete den Aktenkoffer, den sie schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, und gab ihm ein neues Fax.
»Ich warte schon die ganze Zeit auf eine Gelegenheit«, sagte sie.
»Vorhin hat der Präsident angerufen. Er lässt seine besten Wünsche ausrichten und möchte Sie irgendwann heute Abend im Weißen Haus sehen, so bald es Ihnen möglich ist.«
Augustine las das Fax. »Die Bestätigung. Kaye Lang hat ihr Kind bekommen«, sagte er und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Das habe ich auch gehört«, erwiderte Mrs. Leighton. Sie machte ein aufmerksamprofessionelles Gesicht, das nichts verriet.
»Eigentlich sollten wir ihr Glückwünsche übermitteln«, sagte Augustine.
»Mache ich«, erklärte Mrs. Leighton.
Augustine schüttelte den Kopf. »Nein, das machen Sie nicht.
Wir haben immer noch eine offizielle Linie.«
»Jawohl, Sir.«
»Sagen Sie dem Präsidenten, ich bin um acht Uhr da.«
»Und was ist mit Alyson?«, fragte Mrs. Leighton.
»Sie hat mich schließlich geheiratet, oder? Sie hat gewusst, worauf sie sich einlässt.«
89
Kumash County, im Osten des Staates Washington
Kaye stützte sich auf Mitchs Arm und ging schwerfällig im Zimmer auf und ab.
»Wie wollt ihr sie nennen?«, fragte Felicity. Sie saß auf dem einzigen blauen Plastiksessel des Zimmers und wiegte das schlafende Baby sanft in den Armen.
Kaye sah Mitch erwartungsvoll an. Wenn es um die Namensgebung für ihr Kind ging, fühlte sie sich irgendwie verletzlich und anmaßend, als stünde nicht einmal einer Mutter dieses Recht zu.
»Den größten Teil der Mühe hattest du«, bemerkte Mitch, »also hast du auch den Vortritt.«
»Wir müssen uns aber einig sein«, erwiderte Kaye.
»Stell’ mich doch auf die Probe!«
»Sie ist eine Art neuer Stern«, sagte Kaye. Ihre Beine schlotterten immer noch. Im Magen hatte sie nach wie vor ein flaues Gefühl, und mit den Schmerzen zwischen den Beinen kam sie sich manchmal richtig krank vor. Aber ihr Zustand besserte sich rapide.
Sie setzte sich auf die Bettkante. »Meine Großmutter hieß Stella, das heißt Stern. Ich dachte, wir könnten sie Stella Nova nennen.«
Mitch nahm Felicity das Baby ab. »Stella Nova«, wiederholte er.
»Klingt zuversichtlich«, sagte Felicity. »Gefällt mir.«
»So soll sie heißen«, erklärte Mitch und hob die Kleine dicht vor sein Gesicht. Er schnupperte an der Oberseite ihres Kopfes, an der feuchten, üppigen Wärme ihrer Haare. Sie roch nach ihrer Mutter und nach viel mehr. Er spürte, wie die überwältigenden Gefühle in seinem Inneren wie Felsblöcke an ihren Platz fielen und ein sicheres Fundament bildeten.
»Sie fordert sogar im Schlaf unsere Aufmerksamkeit«, sagte Kaye. Fast unbewusst griff sie sich ins Gesicht, entfernte ein herunterhängendes Stück der Maske und legte die neue Haut frei, rosa und zart mit winzigen, leuchtenden Melanophoren.
Felicity kam herüber und beugte sich zu Kaye hinunter. »Ich kann gar nicht glauben, was ich hier sehe«, sagte sie. »Und ich bin es, die dabei sein darf!«
Stella öffnete die Augen und zitterte, als fürchtete sie sich. Sie bedachte ihren Vater mit einem langen, verwunderten Blick und begann zu weinen. Es war ein lautes, beunruhigendes Schreien.
Mitch übergab die Kleine hastig an Kaye, die ihren Morgenmantel beiseite schob. Das Baby beruhigte sich, und das Schreien hörte auf. Wieder genoss Kaye das Wunder der austretenden Milch, die angenehme Sinnlichkeit des Kindes an ihrer Brustwarze. Die Kleine sah ihre Mutter prüfend an, drehte den Kopf, wobei sie die Warze mitzog, und blickte ins Zimmer, zu Felicity und Mitch.
Die rehbraunen, goldgesprenkelten Augen ließen Mitch dahinschmelzen.
»Schon so weit entwickelt«, sagte Felicity. »Sie ist einfach bezaubernd.«
»Was hatten Sie denn gedacht?«, fragte Kaye leise und mit einem leichten Zwitschern in der Stimme. Mitch erschrak ein wenig, als er einen Anklang an den Tonfall des Babys wiedererkannte.
Stella Nova zwitscherte beim Saugen wie ein hübscher kleiner Vogel. Sie sang während des Trinkens, zeigte ihre Zufriedenheit, ihr Entzücken.
Hinter Mitchs Lippen bewegte sich die Zunge in unruhiger Zuneigung. »Wie macht sie das?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte Kaye, und es war nur allzu offensichtlich, dass es sie im Augenblick auch nicht kümmerte.
»Sie ist in vielerlei Hinsicht wie ein Baby von sechs Monaten«, sagte Felicity zu Mitch, während sie das Gepäck vom Auto zum Wohnwagen trug. »Es sieht aus, als könnte sie sich schon konzentrieren, Gesichter erkennen … Stimmen …« Sie machte leise hmmm, als wollte sie sich um das herumdrücken, was Stella eindeutig von anderen Neugeborenen unterschied.
»Sie hat noch nicht wieder gesprochen«, sagte Mitch.
Felicity hielt ihm die Fliegentür auf. »Vielleicht haben wir es uns eingebildet«, erwiderte sie.
Kaye legte das schlafende Baby in einer Ecke des Wohnzimmers in ein Kinderbettchen. Sie breitete eine leichte Decke über Stella und streckte sich mit einem leisen Ächzen. »Wir haben richtig gehört«, sagte sie, ging zu Mitch und hob ein Stück der Maske von seinem Gesicht.
»Au«, schrie er. »Es ist noch nicht so weit.«
»Sieh mal«, sagte Kaye, plötzlich ganz die Wissenschaftlerin.
»Wir haben Melanophoren. Sie hat Melanophoren. Die meisten oder sogar alle neuen Eltern werden sie bekommen. Und was unsere Zunge angeht — die ist mit etwas Neuem in unserem Kopf verbunden.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Wir sind so ausgerüstet, dass wir mit ihr umgehen können, und zwar fast gleichberechtigt.«
Felicity war verblüfft über den Wandel von der frisch gebackenen Mutter zur objektiv beobachtenden Kaye Lang. Kaye erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln. »Während der Schwangerschaft war ich wie eine Kuh«, sagte sie. »Nach diesen neuen Hilfsmitteln zu urteilen, wird unsere Tochter ein sehr schwieriges Kind.«
»Wieso?«, fragte Felicity.
»Weil sie uns in mancher Hinsicht voraus sein wird.«
»Vielleicht in jeder Hinsicht«, fügte Mitch hinzu.
»Das meinen Sie doch nicht wörtlich«, sagte Felicity. »Zumindest kann sie nach der Geburt noch nicht laufen. Die Hautfarbe allerdings — die Melanophoren, wie Sie sie nennen — könnte …«
»Das ist nicht nur Farbe«, sagte Mitch. »Ich spüre sie.«
»Ich auch«, ergänzte Kaye. »Sie verändern sich. Stell dir nur vor, das arme Mädchen.« Sie sah Mitch an. Er nickte und erzählte Felicity von der Begegnung mit den drei Jugendlichen in Virginia.
»Wenn ich die Taskforce wäre, würde ich psychiatrische Stationen für die Eltern verstorbener neuer Kinder einrichten«, sagte Kaye. »Die könnten es mit einer ganz neuen Art von Trauer zu tun bekommen.«
»Vollständige Ausstattung, und keiner, mit dem sie reden können«, sagte Mitch.
Felicity holte tief Luft und fasste sich an die Stirn. »Ich bin seit zweiundzwanzig Jahren Kinderärztin«, sagte sie, »aber jetzt habe ich das Gefühl, ich sollte aufgeben und mich im Wald verstecken.«
»Gib der armen Frau mal ein Glas Wasser«, sagte Kaye. »Oder hätten Sie lieber Wein? Mitch, ich brauche jetzt einen Schluck Wein. Ich habe seit über einem Jahr keinen Tropfen getrunken.«
Sie wandte sich an Felicity. »Stand in dem Bericht etwas über Alkohol?«
»Kein Problem. Für mich auch Wein, bitte.«
Читать дальше