Die Menge rückte eng zusammen und bildete konzentrische Kreise. Alle hatten sich an den Händen gefasst. Höflich baten sie Kaye und Mitch, ein Stück den Hügel hinunterzugehen, bis sie ihre Zeremonie beendet hatten.
»Sie können gern von unten aus zusehen«, sagte eine korpulente junge Frau im grünen Hemd zu Kaye. Über Mitch sah sie demonstrativ hinweg. Ihre Blicke schienen an ihm vorbei und durch ihn hindurch zu wandern.
Die einzigen Geräusche, die von der Versammlung ausgingen, waren das Rascheln der Mäntel und die Schritte der Sandalen auf dem Gras und dem Relief der Sonnenuhr.
Mitch steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern ein.
Die Gouverneure setzten sich um den Tisch und beugten sich nach rechts oder links, um sich flüsternd mit ihren Assistenten oder Kollegen zu beraten. Shawbeck blieb stehen, die Hände vor sich verschränkt. Augustine hatte den Tisch zu einem Viertel umrundet und unterhielt sich mit dem Gouverneur von Kalifornien.
Dicken versuchte, das Rätsel der Sitzordnung zu lösen, und stellte schließlich fest, dass jemand damit einen klugen Plan verfolgte.
Man hatte die Gouverneure nicht nach Dienstalter oder Einfluss gesetzt, sondern nach der geographischen Lage ihrer Staaten. Kalifornien war auf der Westseite des Tisches vertreten, und der Gouverneur von Alabama saß fast am hinteren Ende des Raumes im südöstlichen Viertel. Augustine, Shawbeck und der Minister hatten in der Nähe des Präsidentenstuhles Platz genommen.
Das, so Dickens Vermutung, hatte etwas zu bedeuten. Vielleicht würden sie tatsächlich in den sauren Apfel beißen und die Umsetzung von Augustines Vorschlägen empfehlen.
Dicken war sich alles andere als sicher, was er davon halten sollte. Er hatte Vorträge über die Kosten für die medizinische Versorgung der Sekundärkinder gehört, die eventuell länger überleben würden. Ebenso hatte er gehört, was es kosten würde, wenn die Vereinigten Staaten eine ganze Kindergeneration verloren.
An der Tür stand der Verbindungsbeamte für Gesundheitsfragen. »Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«
Alle erhoben sich. Am langsamsten kam der Gouverneur von Alabama von seinem Stuhl hoch. Dicken erkannte, dass sein Gesicht feucht war, vermutlich von der Hitze draußen. Allerdings hatte Augustine ihm erzählt, dass der Gouverneur während der beiden letzten Stunden mit dem Präsidenten gesprochen hatte.
Ein Sicherheitsbeamter in Blazer und Golfhemd ging an Dicken vorüber und sah ihn mit jener unbewegten Präzision an, die er längst gewohnt war. Der Präsident, groß und mit der berühmten weißen Mähne, betrat den Raum als Erster. Er wirkte konzentriert, aber ein wenig müde. Dennoch war Dicken von der Macht, die er aufgrund seines Amtes ausstrahlte, überwältigt; er freute sich, dass der Präsident in seine Richtung blickte, ihn erkannte und ihm im Vorübergehen würdevoll zunickte.
Der Gouverneur von Alabama schob seinen Stuhl zurück. Die hölzernen Stuhlbeine schabten über den Fußboden. »Herr Präsident«, sagte der Gouverneur viel zu laut. Der Präsident blieb stehen, um mit ihm zu sprechen; der Gouverneur trat zwei Schritte vor.
Zwei Leibwächter sahen einander an und fuhren herum, um vorsichtig einzugreifen.
»Ich liebe mein Amt, und ich liebe unser großartiges Land, Sir«, erklärte der Gouverneur und schlang die Arme um den Präsidenten, als wollte er ihn in Schutz nehmen.
Der Gouverneur von Florida, der daneben stand, schnitt eine Grimasse und schüttelte peinlich berührt den Kopf.
Die Leibwächter waren keinen Meter entfernt.
Ach, dachte Dicken. Mehr nicht; nur das leere, ahnungsvolle Bewusstsein, in der Zeit zu schweben, der noch unhörbare Pfiff einer Lokomotive, eine noch nicht angezogene Bremse, ein Arm, der sich bewegen will und nur nutzlos am Körper hängt.
Ihm fiel ein, dass er vielleicht Platz machen sollte.
Der blonde junge Mann im schwarzen Mantel trug eine grüne Chirurgenmaske und hielt den Blick gesenkt, während er den Hügel hinauf zu der Windrose ging. Er wurde von drei braun und grün gekleideten Frauen begleitet und trug einen kleinen braunen Stoffbeutel, der mit einer goldenen Schnur zugebunden war. Seine schütteren, fast weißen Haare flatterten im Wind, der auf dem Hügel allmählich auffrischte.
Die Kreise der Männer und Frauen öffneten sich, ließen ihn durch.
Mitch beobachtete das Ganze mit verblüffter Miene. Kaye stand mit verschränkten Armen neben ihm. »Was haben die vor?«, fragte er.
»Eine Art Zeremonie«, erwiderte Kaye.
»Ein Fruchtbarkeitsritual?«
»Warum nicht?«
Mitch grübelte. »Buße«, sagte er. »Es sind mehr Frauen als Männer.«
»Etwa drei zu eins«, bestätigte Kaye.
»Die meisten Männer sind schon älter.«
»QTips.«
»Wie bitte?«
»So nennen jüngere Frauen die Männer, die ihre Väter sein könnten«, erklärte Kaye. »Beispielsweise den Präsidenten.«
»Das ist eine Beleidigung«, sagte Mitch.
»Aber es stimmt«, erwiderte Kaye. »Gib mir nicht die Schuld daran.«
Als die Menge sich wieder zusammendrängte, verschwand der Mann aus ihrem Blickfeld.
Eine große, brennende Hand packte Christopher Dicken und schleuderte ihn nach hinten an die Wand. Sie zerschmetterte seine Trommelfelle und drückte ihm den Brustkorb zusammen. Dann zog sie sich zurück, und er sackte auf den Fußboden. Zuckend öffneten sich seine Augen. Er sah Flammen, die in konzentrischen Kreisen an der zerborstenen Decke entlang liefen, und Fliesen, die durch das Feuer fielen. Er war von Blut und Fleischfetzen bedeckt.
Weißer Rauch und Hitze brannten ihm in den Augen, sodass er sie schließen musste. Er konnte nicht atmen, konnte nicht hören, konnte sich nicht bewegen.
Leise und monoton begann der Gesang. »Gehen wir«, sagte Mitch zu Kaye.
Sie blickte zurück zu der Menge. Jetzt hatte auch sie den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Ihre Nackenhaare sträubten sich.
»Na gut«, sagte sie.
Sie schlugen auf einem Fußweg einen Bogen und stiegen dann am nördlichen Abhang den Hügel hinunter. Dabei kamen sie an einem Mann und seinem Sohn vorüber; der Junge, fünf oder sechs Jahre alt, hielt einen Drachen in seinen kleinen Händen. Kaye bemerkte die eleganten Mandelaugen des Kleinen, seinen länglichen, kurz geschorenen Kopf, der ägyptisch aussah wie eine wunderschöne, wieder zum Leben erweckte antike Ebenholzstatue, und dachte: Was für ein schönes, gesundes Kind. Was für ein schöner kleiner Junge.
Ihr fiel das kleine Mädchen ein, das in Gordi am Straßenrand gestanden hatte, als die UNKarawane die Stadt verließ; sie hatte ganz anders ausgesehen und bei ihr dennoch ganz ähnliche Gedanken geweckt.
Gerade als sie nach Mitchs Hand griff, begann das Sirenengeheul. Sie blickten nach Norden zum Parkplatz und sahen fünf Polizeiwagen, die quietschend zum Stehen kamen. Die Türen gingen auf, Polizisten stiegen aus, rannten zwischen den geparkten Autos hindurch und über die Wiese den Hügel hinauf.
»Sieh mal«, sagte Mitch und zeigte auf einen einsamen Mann mittleren Alters in Shorts und Sweatshirt, der in ein Handy sprach. Der Mann sah verängstigt aus. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Kaye.
Die monotonen Gebete waren lauter geworden. Drei Polizisten rannten an Kaye und Mitch vorüber, die Pistolen noch im Halfter, aber einer hatte den Schlagstock gezogen. Sie drängten sich zwischen den äußeren Menschenkreisen hindurch zum Gipfel des Hügels.
Frauen schrien ihnen Schimpfworte entgegen. Sie kämpften mit den Polizisten, schlugen, traten, kratzten, versuchten sie zurückzuhalten.
Kaye konnte nicht fassen, was sie hier sah und hörte. Zwei Frauen sprangen auf einen der Männer zu und überschütteten ihn mit obszönen Worten.
Der Polizist mit dem Schlagstock setzte die Waffe jetzt ein, um seine Kollegen zu schützen. Kaye hörte das Übelkeit erregende Klatschen von schwerem Kunststoff auf Fleisch und Knochen.
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