»Er hat mir erzählt, dass Sie eine großartige, fürsorgliche Mutter waren«, sagte Kaye, »und dass er Ihr einziger Sohn war, und dass sie mich ausquetschen würden wie eine Zitrone.« Sie drückte Abbys Hand noch fester.
Abby lachte, und irgendwie wich die Spannung zwischen ihnen.
»Er hat mir gesagt, dass Sie dickköpfiger und klüger sind als alle anderen Frauen, die er kennt, und dass Sie sich um so vieles gekümmert haben. Er hat gesagt, ich täte gut daran, Sie zu mögen, sonst müsste er ein ernstes Wörtchen mit mir reden.«
Kaye starrte sie bestürzt an. »Das hat er nicht!«
»Oh doch«, sagte Abby feierlich. »Die Männer in dieser Familie nehmen kein Blatt vor den Mund. Ich habe ihm gesagt, ich würde mir große Mühe geben, mit Ihnen zurechtzukommen.«
»Du liebe Güte!«, rief Kaye mit ungläubigem Lachen.
»Genau«, sagte Abby. »Er war sehr abwehrend. Aber er kennt mich. Er weiß, dass auch ich kein Blatt vor den Mund nehme. Wo jetzt überall die Erbsünde auftaucht, stehen uns bestimmt eine Menge Veränderungen bevor. Im Umgang zwischen Männern und Frauen wird vieles anders sein als früher, glauben Sie nicht auch?«
»Da bin ich sicher«, sagte Kaye.
»Bitte gib dir alle Mühe, mein Liebes, meine neue Tochter, damit Mitch einen Ort der Liebe, der Zärtlichkeit und der Geborgenheit hat. Er wirkt stark und zäh, aber in Wirklichkeit sind Männer sehr empfindlich. Lass’ nicht zu, dass die ganzen Dinge euch spalten oder ihn verletzen. Ich will von dem Mitch, den ich kenne und liebe, so viel wie möglich behalten, und zwar so lange wie möglich. Für mich ist er immer noch ein Junge. Und ich hänge sehr an ihm.« Sie hatte Tränen in den Augen, und während Kaye ihre Hand hielt, wurde ihr klar, dass sie ihre eigene Mutter seit vielen Jahren schmerzlich vermisste. Sie hatte nur erfolglos versucht, solche Gefühle zu verdrängen.
»Als Mitch geboren wurde, das war schwierig«, sagte Abby. »Die Wehen haben vier Tage gedauert. Mein erstes Kind, ich dachte mir schon, dass die Entbindung schwer werden würde, aber so schwer … Schade, dass wir nicht noch mehr hatten … aber nur in mancher Hinsicht. Heute hätte ich entsetzliche Angst. Ich habe entsetzliche Angst, obwohl es zwischen Sam und mir nichts gibt, worum wir uns Sorgen machen müssten.«
»Ich werde mich gut um Mitch kümmern«, sagte Kaye.
»Es sind grässliche Zeiten«, erklärte Abby. »Irgendwann wird jemand ein Buch darüber schreiben. Ein großes, dickes Buch. Ich hoffe nur, es hat ein Happy End.«
Als die vier abends zusammen beim Essen saßen, war die Unterhaltung angenehm, locker und wenig tief greifend. Die Luft war klar und alle Probleme erschienen wie weggewaschen. Kaye schlief bei Mitch in seinem alten Zimmer, ein Zeichen für Abbys Billigung oder für Mitchs Durchsetzungsvermögen oder beides.
Es war seit vielen Jahren das erste Mal, dass sie eine richtige Familie kennen lernte. Als sie daran dachte, während sie neben Mitch in dem viel zu schmalen Bett lag, erlebte sie ihrerseits einen Augenblick der glücklichen Tränen.
In Eugene, wo sie nicht weit von einem Drugstore zum Tanken gehalten hatten, hatte sie sich einen Schwangerschaftstest besorgt.
Und um sich selbst das Gefühl zu vermitteln, dass sie in dieser so gewaltig aus dem Tritt geratenen Welt eine ganz normale Entscheidung traf, war sie in derselben kleinen Einkaufsstraße in eine Buchhandlung gegangen und hatte einen Erziehungsratgeber gekauft. Sie hatte Mitch das Taschenbuch gezeigt, und er hatte gegrinst. Von dem Schwangerschaftstest hatte sie nichts gesagt.
»Das alles ist so normal«, murmelte sie, während Mitch leise schnarchte. »Was wir tun, ist so natürlich und normal, bitte, lieber Gott.«
72
Seattle, Washington / Washington, D. C.
14. Mai
Auf dem Weg durch Portland saß Kaye am Steuer; Mitch schlief.
Sie fuhren über die Brücke in den Staat Washington, durchquerten ein kleines Regengebiet und hatten dann wieder strahlenden Sonnenschein. Kaye bog in eine Seitenstraße ein, und sie aßen in einem kleinen Restaurant zu Mittag. Der Ort in der Nähe trug einen Namen, den sie noch nie gehört hatten. Auf den Straßen war es ruhig; es war Sonntag.
Auf dem Parkplatz machten sie einen kurzen Mittagsschlaf, und Kaye lehnte den Kopf an Mitchs Schulter. Die Luft war träge, und die Sonne schien ihr warm auf Haare und Gesicht. Vögel sangen.
Die Wolken wanderten in regelmäßigen Reihen von Süden heran und bedeckten schon bald den ganzen Himmel, aber es war immer noch mild.
Nach der Rast fuhr Kaye durch Tacoma; für den restlichen Weg bis nach Seattle übernahm Mitch wieder das Steuer. Als sie die Innenstadt durchquert und das über die Autobahn gebaute Konferenzzentrum passiert hatten, fürchtete Mitch sich plötzlich davor, Kaye sofort in seine Wohnung mitzunehmen.
»Möchtest du erst etwas von der Stadt sehen, bevor wir uns häuslich niederlassen?«, fragte er.
Kaye lächelte. »Wieso? Ist deine Wohnung nicht aufgeräumt?«
»Da ist alles in Ordnung«, erwiderte er, »sie ist nur vielleicht nicht das …« Er schüttelte den Kopf.
»Keine Sorge. Ich bin nicht in der richtigen Stimmung für Kritik. Aber ich würde mich sehr gern ein bisschen umsehen.«
»Es gibt eine Stelle, wo ich oft hingegangen bin, wenn ich nicht bei Grabungen war …«
Der Gasworks Park erstreckte sich über eine grasbewachsene Landzunge oberhalb des Lake Union. Man hatte die Überreste eines alten Gaswerkes und anderer Fabrikgebäude saniert, in bunten Farben gestrichen und das Gelände in einen öffentlichen Park umgewandelt. Die hohen Gasbehälter sowie die zugehörigen Fußwege und Rohrleitungen waren jedoch nicht gestrichen worden, sondern rosteten hinter einem Zaun vor sich hin.
Mitch nahm Kaye an der Hand und zeigte ihr vom Parkplatz den Weg. Sie fand den Park ziemlich hässlich und das Gras ein wenig spärlich, aber Mitch zuliebe sagte sie nichts.
Sie setzten sich neben dem Maschendrahtzaun auf die Wiese und sahen zu, wie auf dem Lake Union die PassagierWasserflugzeuge landeten. Ein paar einsame Frauen und Männer, aber auch Mütter mit Kindern spazierten zu dem Spielplatz neben den Fabrikgebäuden. Mitch sagte, der Park sei für einen sonnigen Sonntag schlecht besucht.
»Die Leute meiden Menschenansammlungen«, erwiderte Kaye, aber noch während sie sprach, bogen Reisebusse auf den Parkplatz ein und hielten an Stellen, die durch Seile abgegrenzt waren.
»Da ist etwas im Busch«, sagte Mitch und reckte den Hals.
»Und nicht etwas, das du für mich arrangiert hast?«, fragte sie leichthin.
»Nee«, erwiderte Mitch lächelnd. »Aber vielleicht kann ich mich nach dieser Nacht auch bloß nicht mehr daran erinnern.«
»Das sagst du jedes Mal.« Kaye gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund und verfolgte mit den Blicken erst ein Segelboot auf dem See, dann einen Windsurfer im Neoprenanzug.
»Acht Busse«, sagte Mitch. »Seltsam.«
Kayes Periode war seit drei Tagen überfällig. Zuvor war sie regelmäßig gekommen, seit sie nach Sauls Tod die Pille abgesetzt hatte.
Es bereitete ihr eine bohrende Unruhe. Wenn sie sich überlegte, worauf sie sich eingelassen hatte, bekam sie Zähneklappern. So schnell. Altmodische Romanze. Bergab, unaufhaltsam. Immer schneller.
Sie hatte es Mitch noch nicht gesagt — es hätte ja falscher Alarm sein können.
Sobald sie zu genau nachdachte, fühlte sie sich losgelöst von ihrem Körper. Wenn sie sich über die bohrende Unruhe hinwegsetzte und nur ihren Empfindungen nachspürte, dem natürlichen Zustand der Gewebe, Zellen und Gefühle, ging es ihr gut; der Zusammenhang, die Folgerungen, das Wissen sorgten dafür, dass sie sich nicht einfach wohl und verliebt fühlen konnte.
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