Sie wollte wieder den Hügel hinaufgehen, aber Mitch hielt sie am Arm fest.
Immer mehr Polizisten stürzten sich schlagstockschwingend in die Menge. Der Gesang erstarb. Die Menge schien jeden Zusammenhalt zu verlieren. Frauen in langen Mänteln lösten sich aus der Masse, die Hände vor Wut und Angst vor das Gesicht geschlagen, schreiend, weinend, die Stimmen schrill und panisch. Manche brachen zusammen und trommelten mit den Fäusten auf das spärliche gelbe Gras. Aus ihren Mündern sickerte der Speichel.
Ein Mannschaftswagen der Polizei raste mit jaulendem Motor über den Bordstein und die Wiese. Zwei Polizistinnen sprangen heraus und mischten sich unter die Meute.
Mitch zog Kaye die Anhöhe hinunter; schließlich waren sie unten, den Blick immer noch auf die Menschen gerichtet, die sich um die Sonnenuhr drängten. Zwei Polizisten schoben sich mit dem jungen Mann in Schwarz durch die Menge. Er hatte rote, tropfende Schnittwunden an Hals und Händen. Eine Polizistin verlangte über ihr Funkgerät nach einem Krankenwagen. Sie ging wenige Meter an Mitch und Kaye vorüber, das Gesicht bleich und die Lippen gerötet vor Wut.
»Verdammt noch mal«, schrie sie den Umstehenden zu, »warum haben Sie nicht versucht, das zu verhindern?«
Weder Kaye noch Mitch wussten eine Antwort.
Der junge Mann mit dem schwarzen Mantel stolperte und stürzte zwischen den beiden Polizisten, die ihn stützten. Flüchtig war sein von Schmerzen und Schock verzerrtes Gesicht zu sehen, das sich kalkweiß, wie die Wolken, gegen die festgestampfte Erde und das gelbliche Gras abhob.
Mit Mitch am Steuer fuhren sie die Autobahn nach Süden, zum Capitol Hill. Dann bogen sie in östlicher Richtung nach Denny ab. Der Buick schleppte sich die Steigung hinauf.
»Es wäre mir lieber, wir hätten das nicht gesehen«, sagte Kaye.
Mitch fluchte halblaut. »Wir hätten besser gar nicht erst angehalten.«
»Sind denn alle verrückt geworden? Langsam wird es mir zu viel«, erwiderte Kaye. »Ich weiß nicht mehr, wo wir in all dem eigentlich stehen.«
»Wir fallen zurück in alte Verhaltensweisen«, erklärte Mitch.
»Wie in Georgien.« Kaye presste einen Fingerknöchel gegen Lippen und Zähne.
»Es ist entsetzlich, wenn Frauen Männern Vorwürfe machen«, sagte Mitch. »Ich finde das zum Kotzen.«
»Ich mache niemandem Vorwürfe«, erwiderte Kaye, »aber du musst doch zugeben, dass es eine natürliche Reaktion ist.«
Mitch warf ihr einen Blick zu, den man fast wütend nennen konnte. Es war das erste Mal, dass er sie so ansah. Voller Schuldgefühle und Traurigkeit holte sie leise Luft, wandte sich ab und blickte aus dem Beifahrerfenster auf den langgestreckten Broadway: Backsteinhäuser, Fußgänger, junge Männer mit grünen Masken in Begleitung anderer Männer und Frauen, die neben Frauen gingen.
»Vergessen wir’s«, sagte Mitch, »und ruhen wir uns ein bisschen aus.«
Die Wohnung im ersten Stock, ordentlich und kühl und ein wenig staubig nach Mitchs langer Abwesenheit, ging auf den Broadway hinaus und bot Aussicht auf die Backsteinfront des Postamtes, eine kleine Buchhandlung und ein thailändisches Restaurant. Als Mitch das Gepäck hineintrug, entschuldigte er sich für eine Unordnung, die in Kayes Augen nicht existierte.
»Junggesellenbude«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, warum ich den Mietvertrag verlängert habe.«
»Es ist hübsch«, erwiderte Kaye und ließ die Finger über das dunkle Holz der Fensterbank und die weiß getünchte Wand gleiten. Das Wohnzimmer war von der Sonne erwärmt und roch ein wenig muffig — nicht unangenehm, nur ungelüftet. Nicht ohne Schwierigkeiten öffnete Kaye das Fenster. Mitch stand neben ihr und machte es behutsam wieder zu. »Abgase von der Straße«, erklärte er. »Das Schlafzimmerfenster ist auf der Rückseite des Hauses. Da kommt frische Luft rein.«
Kaye hatte sich vorgestellt, ihre ersten Gefühle in Mitchs Wohnung würden romantisch und angenehm sein, und sie werde eine Menge über ihn erfahren. Aber hier war alles so adrett, so sparsam möbliert, dass sie eine gewisse Enttäuschung empfand. Sie sah sich die Bücher in dem deckenhohen Regal neben der Kochnische an: Lehrbücher über Anthropologie und Paläontologie, ein paar verschlissene biologische Werke, eine Kiste mit wissenschaftlichen Zeitschriften und Fotokopien. Keine Romane.
»Das thailändische Restaurant ist gut«, sagte Mitch und legte die Arme um sie, während sie vor dem Bücherregal stand.
»Ich habe keinen Hunger. Hier hast du also deine Forschungen betrieben?«
»Genau hier. Ein Geistesblitz. Du warst meine Inspiration.«
»Danke schön«, sagte sie.
»Machen wir einfach nur eine kleine Mittagspause? Im Kühlschrank ist Bier …«
»Budweiser?«
Mitch grinste.
»Ich nehme eins«, sagte Kaye. Er ließ sie los und kramte im Kühlschrank.
»Mist. Es muss einen Stromausfall gegeben haben. Im Gefrierschrank ist alles aufgetaut …« Ein kühler, fauliger Geruch drang aus der Küche. »Aber das Bier ist noch gut.« Er brachte ihr eine Flasche und schraubte energisch den Verschluss ab. Kaye nahm sie und trank einen Schluck. Kaum Geschmack. Keine Linderung.
»Ich muss zur Toilette«, sagte Kaye. Sie fühlte sich taub, weit weg von allem, was wichtig war. Sie nahm die Handtasche mit ins Badezimmer und holte den Schwangerschaftstest heraus. Er war so schön einfach: zwei Tropfen Urin auf einen Teststreifen, blau für positiv, rosa für negativ. Ergebnis in zehn Minuten.
Plötzlich wollte sie es unbedingt wissen.
Das Bad war makellos sauber. »Was kann ich für ihn tun?«, fragte sie sich. »Er führt hier sein eigenes Leben.« Aber dann schob sie den Gedanken beiseite, klappte die Brille herunter und setzte sich.
Mitch hatte mittlerweile im Wohnzimmer den Fernseher eingeschaltet. Durch die alte, massive Kiefernholztür hörte Kaye gedämpfte Stimmen; vereinzelt konnte sie ein paar Worte verstehen.
»… auch der Minister wurde bei der Explosion verletzt …«
»Kaye!«, rief Mitch.
Sie deckte ein Papiertuch über den Streifen und öffnete die Tür.
»Der Präsident«, sagte Mitch mit entsetzter Miene. Er hieb mit den Fäusten in die Luft. »Hätte ich bloß nicht das blöde Ding angemacht!«
Kaye blieb im Wohnzimmer vor dem kleinen Fernseher stehen und blickte gebannt auf Kopf und Schultern der Sprecherin, die Bewegungen ihrer Lippen, die an einem Auge verwischte Schminke.
»Bisher wurden sieben Tote gezählt, darunter die Gouverneure von Florida, Mississippi und Alabama, der Präsident, ein Sicherheitsbeamter und zwei noch nicht identifizierte Personen. Zu den Überlebenden gehören die Gouverneure von New Mexico und Arizona, der Leiter der HerodesTaskforce Mark Augustine und Frank Shawbeck von den National Institutes of Health. Der Vizepräsident hielt sich zur fraglichen Zeit nicht im Weißen Haus auf …«
Mitch stand mit hängenden Schultern neben ihr.
»Wo war Christopher?«, fragte Kaye mit erstickter Stimme.
»Bisher gibt es keine Erklärung, wie eine Bombe trotz schärfster Sicherheitsmaßnahmen ins Weiße Haus geschmuggelt werden konnte. Wir schalten jetzt zu Frank Sesno vor dem Weißen Haus.«
Kaye befreite sich aus Mitchs Arm. »Entschuldigung«, sagte sie, »Ich muss noch mal ins Badezimmer.«
»Fehlt dir etwas?«
»Mir geht’s gut.« Sie schloss die Tür und verriegelte sie, holte tief Luft und nahm das Papiertuch weg. Die zehn Minuten waren vorüber.
»Fehlt dir auch ganz sicher nichts?«, rief Mitch von draußen.
Kaye hielt den Streifen gegen das Licht und betrachtete die beiden ersten Testfelder. Das erste war blau. Das zweite war blau. Sie las sich noch einmal die Gebrauchsanleitung durch, verglich die Farben und lehnte sich mit dem Ellenbogen gegen die Tür. Ihr war schwindlig.
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