In Innsbruck werden die Gewebeproben immer noch unter Verschluss gehalten, und man gibt dort weder Kommentare noch Material ab, aber Mitch bearbeitet seine Bekannten an der University of Washington, damit sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit gehen und die Geheimnistuerei der Leute in Innsbruck unterlaufen. Nach Menons Ansicht bleiben den Gradualisten, die für die Mumien verantwortlich sind, noch zwei oder drei Monate; dann müssen sie ihre Berichte schreiben und veröffentlichen, sonst wird man sie durch eine objektivere Arbeitsgruppe ersetzen — jedenfalls hofft Brock das, und mit Sicherheit hofft er, dass er dann die Leitung übernehmen kann.
Mitch könnte auch zu der Arbeitsgruppe gehören, aber das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Merton und Daney haben von der New Yorker Notstandsverwaltung keine Genehmigung bekommen, die Tagung in Albany abzuhalten. Irgendwas von 1845 und Gouverneur Silas Wright und Mieteraufständen; man möchte nicht, dass sich so etwas während des »Experiments« mit den »vorübergehenden« Notstandsgesetzen wiederholt.
Über Maria Konig von der University of Washington haben wir uns an die Notstandsverwaltung des Staates Washington gewandt; dort hat man eine zweitägige Konferenz in der Kane Hall mit maximal hundert Teilnehmern genehmigt, die alle von der Behörde überprüft werden müssen. Die Grundrechte sind nicht ganz in Vergessenheit geraten, aber doch ziemlich. Das Wort »Kriegsrecht« nimmt niemand in den Mund, und die Zivilgerichte arbeiten auch in vollem Umfang weiter, aber nur mit Genehmigung der Behörden in den einzelnen Bundesstaaten.
So etwas hat es seit 1942 nicht gegeben, sagt Mitch. Mir ist es richtig unheimlich: Ich bin gesund, unternehmungslustig, energiegeladen, und ich sehe kaum wie eine Schwangere aus. Die Hormone sind die gleichen, ihre Auswirkungen sind die gleichen.
Morgen gehe ich zum Marine Pacific Hospital wegen der Ultraschalluntersuchung, und wir lassen trotz der Risiken auch Amniozentese und Chorionzottenuntersuchung machen, denn wir wollen wissen, was für Gewebe es ist.
Der nächste Schritt wird schwieriger.
Mrs. Hamilton, jetzt bin ich auch ein Versuchskaninchen.
75
Gebäude 10, National Institutes of Health, Bethesda
Juli
Dicken rollte sich mit einer Hand den langen Korridor im neunten Stock des Magnuson Clinical Center entlang, drehte sich — wiederum mit einer Hand und, so seine Hoffnung, mit echter Rollstuhleleganz — herum und sah undeutlich die beiden Männer auf dem Weg, den er gekommen war. Einen erkannte er an dem grauen Anzug, den langen, langsamen Schritten und der Größe: Es war Augustine. Wer der zweite sein könnte, wusste er nicht.
Leise stöhnend griff er mit der rechten Hand nach unten und bewegte sich auf die beiden zu. Im Näherkommen erkannte er, dass Augustines Gesicht gut heilte, auch wenn es von nun an immer ein wenig zerklüftet aussehen würde. Die Verbände von den mehrfachen kosmetischen Operationen liefen von der Seite über die Nase und bedeckten Teile der Wangen und Schläfen; was nicht davon bedeckt war, zeigte noch die Spuren der Bombensplitter. Bei Augustine waren beide Augen verschont geblieben.
Dicken hatte ein Auge verloren, und das andere war durch die Explosionshitze trübe geworden.
»Sie sehen ja immer noch schrecklich aus, Mark«, bemerkte Dicken, während er mit einer Hand abbremste und einen pantoffelbekleideten Fuß leicht anzog.
»Danke gleichfalls, Christopher. Darf ich Ihnen Dr. Kelly Newcomb vorstellen.«
Die beiden schüttelten sich behutsam die Hände. Dicken taxierte Newcomb kurz und sagte dann: »Sie sind Marks neuer Handlungsreisender.«
»Stimmt«, erwiderte Newcomb.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ernennung«, sagte Dicken zu Augustine.
»Nicht nötig«, gab Mark zurück. »Es wird ein Albtraum.«
»Lasset die Kindlein zu mir kommen«, sagte Dicken. »Wie geht’s Frank?«
»Wird nächste Woche aus dem Walter Reed entlassen.«
Erneutes Schweigen. Dicken wusste nicht, was er noch sagen sollte. Newcomb faltete linkisch die Hände und rückte im nächsten Augenblick seine Brille auf der Nase zurecht. Dicken hatte etwas gegen Momente des Schweigens, und als Augustine wieder zum Sprechen ansetzte, unterbrach er ihn: »Mich werden sie noch ein paar Wochen hier behalten. Noch eine Operation an der Hand. Ich würde gerne eine Zeit lang vom Gelände hier verschwinden und nachsehen, was auf der Welt los ist.«
»Gehen wir doch zum Reden in Ihr Zimmer«, schlug Augustine vor.
»Seien Sie meine Gäste«, erwiderte Dicken. Als sie das Zimmer betreten hatten, bat Augustine Newcomb, die Tür zu schließen.
»Es wäre mir lieb, wenn Kelly sich ein paar Tage lang mit Ihnen unterhalten könnte, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren.
Wir stehen am Beginn einer neuen Phase. Der Präsident hat uns seinem frei verfügbaren Etat zugeordnet.«
»Na großartig«, sagte Dicken mit belegter Stimme. Er schluckte und versuchte, seine Zunge mit ein wenig Speichel anzufeuchten.
Schmerzmittel und Antibiotika hatten seine Körperchemie gründlich durcheinander gebracht.
»Wir werden nichts Radikales unternehmen«, erklärte Augustine. »Alle sind sich einig, dass wir uns auf unglaublich dünnem Eis bewegen.«
»Der Staat bewegt sich auf unglaublich dünnem Eis«, sagte Dicken.
»Derzeit zweifellos«, erwiderte Augustine leise. »Ich habe mich nicht um die Stelle gerissen, Christopher.«
»Ich weiß.«
»Aber falls SHEVAKinder lebend geboren werden, müssen wir schnell reagieren. Ich kenne Berichte aus sieben Instituten, die bewiesen haben, dass SHEVA uralte Retroviren im Genom aktivieren kann.«
»Es setzt alle möglichen HERVs und Retrotransposons in Bewegung«, sagte Dicken. Er hatte versucht, die Berichte auf einem besonderen Sichtgerät in seinem Zimmer zu lesen. »Ich weiß nicht genau, ob es wirklich Viren sind. Es könnten auch …«
Augustine unterbrach ihn. »Egal, wie man sie nennt, sie besitzen die notwendigen Virusgene. Und wir mussten uns seit Jahrmillionen nicht mit ihnen auseinander setzen, das heißt, sie verursachen wahrscheinlich Krankheiten. Was mir zurzeit vor allem Sorgen macht, sind Bestrebungen, die Frauen zum Austragen solcher Kinder zu ermutigen. In Osteuropa und Asien gibt es in dieser Beziehung keine Probleme. Japan hat schon mit einem Vorbeugungsprogramm begonnen. Aber auf uns hier lastet ein größerer Fluch.«
Das war milde ausgedrückt. »Überschreiten Sie nicht wieder die Grenze«, riet Dicken.
Augustine war nicht in der Stimmung für kluge Ratschläge.
»Christopher, wir könnten mehr als nur eine Kindergeneration verlieren. Der Ansicht ist auch Kelly.«
»Die Befunde sind stichhaltig«, sagte Newcomb.
Dicken hustete. Er bekam den Anfall unter Kontrolle, aber sein Gesicht rötete sich vor Anspannung. »Was hat man denn vor —
Internierungslager? Konzentrationskindergärten?«
»Nach unseren Schätzungen werden in Nordamerika bis zum Jahresende höchstens tausend bis zweitausend SHEVABabys lebend zur Welt kommen. Vielleicht aber auch keines, null. Der Präsident hat schon eine Notverordnung unterzeichnet, in der uns das Sorgerecht übertragen wird, wenn sie lebend geboren werden.
An den zivilrechtlichen Einzelheiten arbeiten wir gerade. Was die Europäische Union tun wird, weiß der Himmel. In Asien ist man sehr pragmatisch. Abtreibung und Quarantäne. Ich würde mir wünschen, wir könnten auch so knallhart sein.«
»Für mich klingt das nicht nach einer größeren Gesundheitsgefahr«, sagte Dicken. Sein Rachen verkrampfte sich wieder, und er hustete. Aufgrund seines beeinträchtigten Sehvermögens konnte er Augustines Gesichtsausdruck hinter den Verbänden nicht erkennen.
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