Nadia arbeitete mit einem Bulldozer. Eine Frau mit ihrer eigenen Form von Viriditas. Sie hielt an und kam herüber, um kurz mit ihnen zu sprechen. Das Projekt kam voran, wie sie ihnen ruhig sagte. Erstaunlich, was man mit den Robotvehikeln anfangen konnte, die immer noch von der Erde geschickt wurden. Der Promenadeplatz war fertig und mit verschiedenen Bäumen bepflanzt, einschließlich einer Reihe von Zwergsequoien, die schon dreißig Meter groß waren, fast so hoch wie die ganze Arkade. Die drei übereinander liegenden Reihen von überwölbten Räumen im Stil von Underhill hinter dem Platz waren erstellt, und ihre Isolierung angebracht. Die Siedlung war gerade am Vortag versiegelt, geheizt und unter Druck gesetzt worden, so dass man ohne Anzüge darin arbeiten konnte. Die drei Stockwerke lagen in immer kleineren Bogen übereinander und erinnerten Michel an den Pont du Gard. Natürlich war die ganze Architektur römischen Ursprungs, so dass das keine Überraschung sein durfte. Aber die Bogen waren breiter und leichter. Luftiger, wie es die geringere Schwere zuließ.
Nadia machte sich wieder an die Arbeit. Eine so ruhige Person! Stabil, genau das Gegenteil von labil. Gemäßigt, in sich zurückgezogen. Sie konnte sich nicht mehr von ihrer alten Freundin Maya unterscheiden. Es war gut für Maya, in ihrer Nähe zu sein. Das entgegengesetzte Ende der Skala; sie konnte sie hindern davonzufliegen. Gab ein Beispiel für sie ab. Wie bei dieser Begegnung passte Maya sich Nadias ruhigem Ton an. Und als Nadia wieder an die Arbeit ging, gewann Maya etwas von jener Heiterkeit zurück. Sie sagte: »Ich werde Underhill vermissen, wenn wir von hier wegziehen. Du nicht auch?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Michael. »Dies hier wird erheblich mehr besonnt sein.« Alle drei Stockwerke des neuen Habitats würden sich auf den hohen Platz öffnen und terrassierte breite Balkons auf der Sonnenseite der Zimmer haben, so dass, obwohl das Bauwerk nach Norden gerichtet und tiefer als Underhill eingegraben war, die heliotropischen, sich automatisch zur Sonne ausrichtenden Filter auf der anderen Seite des Grabens von Morgen- bis Abenddämmerung Licht auf sie werfen würden. »Ich freue mich auf den Umzug. Wir haben den Platz von Anfang an benötigt.«
»Aber wir werden nicht diesen ganzen Platz für uns allein haben. Es wird hier neue Leute geben.«
»Ja. Aber das gibt uns Raum anderer Art.«
Maya machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wie John und Frank, die weggehen.«
»Ja. Aber auch das ist nicht unbedingt schlimm.« In einer größeren Gesellschaft, so sagte er ihr, würde die klaustrophobe Dorfatmosphäre von Underhill sich allmählich verflüchtigen, und das würde eine bessere Perspektive für gewisse Aspekte der Dinge ergeben. Michel zögerte, ehe er fortfuhr, unsicher, wie er es sagen sollte. Subtilität war gefährlich, wenn beide Gesprächspartner eine für sie zweite Sprache benutzten und unterschiedliche Muttersprachen hatten. Möglichkeiten für Missverständnisse lagen allzu nahe. »Du musst dich mit der Idee vertraut machen, dass du vielleicht gar nicht zwischen John und Frank wählen willst. Dass du in Wirklichkeit beide haben möchtest. Im Kontext der Ersten Hundert kann das nur skandalös sein. Aber in einer größeren Welt und im Laufe der Zeit …«
»Hiroko hält sich zehn Männer!« rief sie ärgerlich.
»Ja, und du auch. Und in einer größeren Welt wird niemand es erfahren oder sich darum kümmern.«
Er redete ihr weiter zu und sagte ihr, dass sie stark sei und (wie Frank es ausdrücken würde) das Alpha-Weibchen des Trupps. Sie widersprach und nötigte ihn solange zu mehr Lobreden, bis sie schließlich befriedigt war und er vorschlagen konnte zurückzukehren.
»Meinst du nicht, dass es ein Schock sein wird, neue Leute um sich zu haben? Andere Menschen?« Sie fuhr, und als sie sich zur Seite wandte, um ihn dies zu fragen, kam sie fast von der Straße ab.
»Das nehme ich an.« In Borealis und Acidalia waren schon Teilgruppen gelandet, und die Videobänder von ihnen waren ein Schock gewesen. Das konnte man an den Gesichtern der Leute erkennen. Als ob Aliens aus dem Weltraum eingefallen wären. Aber bisher waren nur Ann und Simon einigen von ihnen in Person begegnet, die auf eine Rover-Expedition nördlich von Noctis Labyrinthus getroffen waren. »Ann sagt, sie hatte ein Gefühl, als ob jemand aus dem Fernseher herausgekommen wäre.«
»Mein Leben gibt mir immer ein solches Gefühl«, sagte Maya traurig.
Michel zog die Augenbrauen hoch. Das Maya-Programm hätte nicht so gesprochen. »Was meinst du damit?«
»Oh, das weißt du. Die halbe Zeit wirkt es wie eine große Simulation, meinst du nicht auch?«
»Nein.« Er dachte darüber nach. »Das meine ich nicht.« Es war alles wirklich nur zu real — die durch den Roversitz tief ins Fleisch schneidende Kälte — unausweichlich real, unausweichlich kalt. Vielleicht nahm sie als Russin das nicht so wahr. Aber es war immer und immer kalt. Selbst mittags an einem Mittsommertag, wenn die Sonne über den Köpfen wie ein offene Ofentür im sandfarbenen Himmel loderte, betrug die Temperatur bestenfalls 260 Kelvin, also 15 Grad unter Null — kalt genug, um durch das Geflecht eines Schutzanzugs zu dringen und jede Bewegung schmerzhaft zu machen. Als sie sich Underhill näherten, fühlte Michel die Kälte durch die Haut stechen, und er spürte, wie allzu kühle, mit Sauerstoff versetzte Luft aus dem Mundstück tief in seine Lungen strömte. Er blickte auf den Sandhorizont und den Sandhimmel und sagte sich: Ich bin wie eine Diamantklapperschlange, die durch eine Wüste aus kaltem Gestein und trockenem Staub gleitet. Eines Tages werde ich meine Haut abwerfen wie ein Phönix im Feuer, um eine neue Kreatur der Sonne zu werden und nackt am Strand zu spazieren und in warmem Salzwasser zu planschen …
Zurück in Underhill stellte er das psychiatrische Programm in seinem Kopf an und fragte Maya, ob sie sich besser fühle. Sie berührte seine Stirnscheibe mit der ihren und schenkte ihm einen kurzen strahlenden Blick, der einen Kuss bedeutete. »Das weißt du«, sagte ihre Stimme ihm ins Ohr. Er nickte und sagte: »Ich werde dann noch etwas spazieren gehen.« Er sagte nicht: Aber was ist mit mir? Was wird mir ein besseres Gefühl geben?
Er zwang seine Beine, sich zu bewegen, und marschierte los. Die kahle Ebene rings um die Basis war wie die Vision einer Einöde nach einem Holocaust, eine Welt der Alpträume. Trotzdem wollte er nicht in ihren kleinen Bau aus künstlichem Licht, erwärmter Luft und geschickt dargebotenen Farben zurück, die er größtenteils selbst ausgesucht hatte unter Hinzuziehung neuester Errungenschaften der Theorie über die Zusammenhänge zwischen Stimmungen und Farben, einer Theorie, die, wie er jetzt erkannte, auf gewissen Grundannahmen beruhte, die hier eigentlich nicht zutrafen. Die Farben waren alle falsch, oder noch schlimmer: irrelevant. Tapeten in der Hölle.
Diese Phrase formte sich in seinem Kopf und legte sich ihm auf die Zunge. Tapeten in der Hölle. Da sie ohnehin alle verrückt werden würden … Es war gewiss ein Fehler gewesen, nur einen einzigen Psychiater mitzunehmen. Jeder Therapeut auf der Erde stand auch selbst in Behandlung, das gehörte zum Job, und der Kollege musste dieselbe Sprache sprechen. Aber sein Therapeut befand sich drunten in Nizza, mindestens fünfzehn Sprechminuten entfernt; und Michel sprach mit ihm, aber der konnte nicht helfen. Er verstand ihn gar nicht richtig. Er lebte dort, wo es warm und blau war, er konnte ins Freie gehen und war (wie Michel annahm) bei recht guter mentaler Gesundheit. Dagegen war Michel ein Arzt in einem Hospital in einem Gefängnis in der Hölle. Und dieser Arzt war krank.
Es war ihm nicht gelungen, sich anzupassen. In dieser Hinsicht waren die Menschen verschieden. Es war eine Sache des Temperamentes. Maya, die auf die Tür der Schleuse zuging, hatte ein von dem seinen ganz unterschiedliches Temperament, was ihr irgendwie ermöglichte, sich völlig daheim zu fühlen. Um die Wahrheit zu sagen, er glaubte nicht, dass sie von ihrer Umgebung überhaupt viel Notiz nahm. Und dennoch waren er und sie sich in anderer Hinsicht ähnlich. Das hatte mit dem Index von Labilität/Stabilität zu tun und dessen besonderer Emotionalität. Sie waren beide labil. Und doch waren sie fundamental sehr verschiedene Charaktere. Man musste den Index von Labilität/Stabilität im Zusammenhang mit den sehr unterschiedlichen Kombinationen von Eigenschaften sehen, die unter den Etiketten Extroversion und Introversion zusammengefasst werden. Das war seine größte Entdeckung im letzten Jahr gewesen; und jetzt bestimmte sie sein ganzes Denken über sich und seine Pfleglinge.
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