Er hatte eine gewöhnliche Jugend gehabt, war oft umgezogen, hatte die gewonnenen Freunde verloren, war auf die Universität von Paris gegangen, um Psychologie zu studieren. Er hatte seine Dissertation über Depression auf Raumstationen angefertigt und dann für Ariane und später Glavkosmos gearbeitet. Inzwischen hatte er geheiratet und war geschieden. Franchise hatte gesagt, er ›wäre nicht da‹. All diese Nächte mit ihr in Avignon, all jene Tage in Villefranche-sur-Mer. Ein Leben auf dem schönsten Fleck der Erde — und er war umhergelaufen in einem Nebel von Verlangen nach dem Mars! Das war absurd! Schlimmer noch, es war töricht. Ein Fehler der Phantasie, der Erinnerung und letztlich sogar der Intelligenz. Er war nicht imstande gewesen zu sehen, was er gehabt hatte, oder sich vorzustellen, was er bekommen könnte. Und jetzt musste er dafür zahlen, gefangen auf einer Eisscholle in der arktischen Nacht mit neunundneunzig Fremden, von denen kein einziger richtig Französisch sprach. Nur drei, die es immerhin versuchen konnten. Und Franks Französisch war schlimmer als gar keins. Es war, als ob man die Sprache mit einer Axt bearbeitete.
Das Fehlen der eigenen Zunge seines Geistes hatte ihn dazu getrieben, das Fernsehen aus der Heimat zu betrachten, was aber seine Qual nur noch verschärfte. Dennoch schickte er auf Band gesprochene Videomonologe an seine Mutter und Schwester, damit sie in gleicher Weise antworten konnten. Er sah sich diese Antworten oft an und achtete mehr auf die Hintergründe als auf seine Verwandten. Er führte auch gelegentlich Live-Gespräche mit Journalisten und wartete ungeduldig während der Dialogpausen auf Antworten. Solche Unterhaltungen zeigten, wie berühmt er in Frankreich war, eine allgemein vertraute, eine ›öffentliche‹ Person; und er bemühte sich, alle Fragen konventionell zu beantworten, indem er die Persona von Michel Duval spielte und das Michel-Programm ablaufen ließ. Manchmal sagte er Konsultationen mit Kolonistenkollegen ab, wenn ihm danach war, Französisch anzuhören. Sollten jene doch Englisch essen!
Aber diese Vorfälle trugen ihm eine scharfe Rüge seitens Frank ein und eine Konferenz mit Maya. War er überarbeitet? Natürlich nicht. Er hatte nur neunundneunzig Personen geistig gesund zu halten und wanderte zugleich in einer geistigen Provence auf von Bäumen bedeckten steilen Bergflanken mit ihren Weingärten, Bauernhäusern und verfallenen Städten und Klöstern in einer lebendigen Landschaft, einer Landschaft, die unendlich viel schöner und menschlicher war als die steinige Wüste dieser Realität …
Er saß in der Fernsehlounge. In Gedanken verloren war er offenbar in sich gegangen. Aber er konnte sich nicht daran erinnern. Er hatte gedacht, er stünde oben auf der Großen Pyramide. Und dann hatte er gezwinkert und befand sich in der TV-Lounge (alle Wohnkomplexe haben eine) und sah das Videobild einer von Flechten bedeckten Canyonwand in Marineris.
Er erschauderte. Es war wieder passiert. Er hatte den Kontakt verloren, war fortgegangen und später am Tage wieder zu sich gekommen. Das war schon einige dutzend Male passiert. Und es war nicht einfach Verlorensein in Gedanken, sondern darin vergraben sein, für die Welt tot. Er schaute sich in dem Raum um und erbebte krampfhaft. Es war jetzt Ls = 5, der Anfang des nördlichen Frühlings, und die Nordwände der großen Canyons erwärmten sich in der Sonne. Da sie alle irgendwie verrückt werden würden …
Dann war es Ls = 157, und 152 Grade waren in einer verschwommenen Nichtexistenz vergangen. Er wärmte sich in der Sonne im Hofe von Francoises Villa am Strand von Villefranche-sur-Mer und schaute hinab auf die Dächer und Terracottasäulen und ein kleines Becken, türkisfarben über dem Kobalt des Mittelmeeres. Eine Zypresse stand wie eine grüne Flamme über dem Teich, schwankte in der Brise und ergoss ihren Duft über sein Gesicht. In der Ferne die grüne Landzunge einer Halbinsel …
Nur befand er sich real in Underhill Prime, gewöhnlich als ›der Graben‹ oder ›Nadias Arkade‹ bezeichnet, und saß auf dem oberen Balkon mit Blick auf eine Zwergsequoia. Dahinter die Glaswand und die Spiegel mit ihrem abgestuften Reflexionsindex, die das Licht aus seinem Ursprung an der Cote d’Or in den Promenadeplatz hinunterlenkten. Tatiana Durova war durch einen von einem Roboter umgekippten Kran getötet worden, und Nadia war untröstlich. Aber Kummer läuft von uns ab wie Regen an einer Ente, dachte Michel, als er bei ihr saß. Im Laufe der Zeit würde Nadia sich erholen. Inzwischen konnte man nichts tun. Hielt man ihn etwa für einen Zauberer? Einen Priester? Wenn das stimmte, hätte er sich längst selbst heilen können und auch all diese Welt oder noch besser, er wäre durch den Weltraum nach Hause geflogen. Hätte das nicht eine Sensation ausgelöst, am Strand von Antibes zu erscheinen und zu sagen »Bonjour, ich bin Michel. Ich bin nach Hause gekommen?«
Dann war es Ls = 190, und er war eine Eidechse oben auf dem Pont du Gard, auf den schmalen rechteckigen Steinplatten, die den eigentlichen Aquädukt bedeckten, der geradlinig hoch über die Schlucht verlief. Seine schuppige Haut hatte sich um die Taille herum abgeschält, und die heiße Sonne brannte ein schachbrettartiges Muster in die neue Haut. Nur, dass er sich tatsächlich in Underhill befand, im Atrium, und dass Frank weggezogen war, um bei den Japanern zu wohnen, die in Argyre gelandet waren, und dass Maya und John sich in den Haaren lagen wegen ihrer Zimmer und darüber, wo das lokale Hauptquartier der UNOMA unterzubringen wäre. Maya selbst, schöner denn je, schlich ihm durch das Atrium nach und beschwor ihn zu helfen. Er und Marina Tokareva hatten vor fast einem vollen Marsjahr aufgehört zusammenzuwohnen — sie hatte gesagt, er wäre nicht da. Und wenn er Maya anschaute, fand Michel, dass er sie sich als Geliebte vorstellte. Aber das war natürlich verrückt. Sie war eine russalka — eine Wasserhexe — und hatte mit Bossen von Glavkosmos und mit Kosmonauten geschlafen, um ihren Weg durch das System nach oben zu machen. Dadurch war sie ungesellig, bitter und unberechenbar geworden. Sie benutzte Sex jetzt, um zu verletzen. Sex war für sie einfach Diplomatie mit anderen Mitteln. Es wäre unsinnig, mit ihr auf diese Art etwas zu tun zu haben und sich in den Wirbel ihrer Glieder und ihres Bannkreises ziehen zu lassen. Warum sollte man nicht an erster Stelle verrückte Leute schicken …
Aber jetzt war es Ls = 241. Er ging über die löchrige Brustwehr von Les Baux und blickte in die verfallenen Kammern der mittelalterlichen Einsiedelei. Es war kurz vor Sonnenuntergang, und das Licht war marsartig orangefarben. Der Kalkstein glühte, und das ganze Dorf und die dunstige Ebene unten dehnten sich bis hin zur weißbronzenen Linie des Mittelmeers. Sie sahen so unerklärlich aus wie ein Traum … Außer, es war ein Traum. Und er erwachte und fand sich wieder in Underhill. Phyllis und Edvard waren gerade von einer Expedition zurückgekehrt. Phyllis lachte und zeigte ihnen einen glatten Steinklumpen. Sie sagte fröhlich: »Das war über den ganzen Canyon verstreut. Goldnuggets von Faustgröße.«
Dann ging er durch die Tunnels hinaus zur Garage. Der Psychiater der Kolonie erlebte Visionen und fiel in Lücken des Bewusstseins und des Gedächtnisses. Arzt, hilf dir selber! Aber das konnte er nicht. Er war an Heimweh erkrankt. Heimweh — es müsste einen besseren Ausdruck dafür geben, ein wissenschaftliches Etikett, um es zu legitimieren und für andere real zu machen. Aber er wusste schon, dass es real war. Er vermisste die Provence so sehr, dass er glaubte, nicht atmen zu können. Er war wie Nadias Hand, ein Teil davon abgerissen, und die Phantomnerven pulsierten noch schmerzhaft.
Und ihnen die Mühe ersparen?
Die Zeit verging. Das Michel-Programm machte die Runde, eine hohle Persona, innen leer, nur irgendein winziger Homumculus des Kleinhirns noch verblieben, um das Ding aus der Ferne zu bedienen.
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