Während er zum Alchemistenviertel ging, ordnete er die Ereignisse des Morgens in das Gitter dieses neuen charakterologischen Systems ein. Extroversion/Introversion war eines der am besten studierten Systeme von Eigenschaften in der ganzen psychologischen Theorie, mit sehr reichem Beweismaterial aus vielen verschiedenen Kulturen, das die objektive Realität des Konzeptes unterstützte. Natürlich keine einfache Dualität. Man stempelte eine Person nicht einfach als so oder so ab, sondern ordnete sie auf einer Skala ein nach solchen Eigenschaften wie Geselligkeit, Impulsivität, Unbeständigkeit, Gesprächigkeit, Mitteilsamkeit, Aktivität, Lebhaftigkeit, Reizbarkeit, Optimismus und so weiter. Diese Messungen waren oft genug ausgeführt worden, und es war statistisch erwiesen, dass die mannigfachen Eigenschaften tatsächlich im Zusammenhang standen, bis zu einem Maße, das Zufall weitgehend ausschloss. Also war dieses Konzept real, durchaus real! Tatsächlich hatten physiologische Untersuchungen ergeben, dass Extroversion mit Ruhezuständen geringer cortikaler Erregung verknüpft war und Introversion mit hoher cortikaler Erregung. Dies war Michel zunächst widersinnig vorgekommen; aber dann erinnerte er sich, dass der Cortex — die Großhirnrinde — die unteren Zentren des Gehirns hemmt, so dass geringe cortikale Erregung das weniger behinderte Verhalten des Extrovertierten ermöglicht, während hohe cortikale Erregung dies verhindert und zu Introversion führt. Dies erklärte auch, warum der Genuss von Alkohol, der cortikale Erregung dämpft, zu einem aufgeregteren und weniger gehemmten Verhalten führte.
Also würde das ganze Bündel extrovertierter/introvertierter Züge, mit allem, was sie über jemandes Charakter aussagten, auf eine Gruppe von Zellen im Hirnstamm zurückgeführt, die man das retikulare aktivierende System nennt, das Gebiet, welches letztlich die Niveaus cortikaler Erregung bestimmt. Damit wurde man zur Biologie geführt. Ralph Waldo Emerson, der berühmte amerikanische Transzendentalphilosoph des 19. Jahrhunderts, sagte nach dem Tod seines sechsjährigen Sohnes: So etwas wie Schicksal dürfte es nicht geben. Aber Biologie war Schicksal.
Und Michels System ging noch weiter. Schicksal war schließlich kein einfaches Entweder/Oder. Er hatte sich kürzlich mit Wengers Index automatischer Balance beschäftigt, der sieben verschiedene Variable benutzte, um zu bestimmen, ob ein Individuum durch die sympathetischen oder die parasympathetischen Zweige des autonomen Nervensystems beherrscht wird. Der sympathetische Zweig reagiert auf äußere Reize und veranlasst den Organismus zu reagieren, so dass von ihm beherrschte Personen reizbar waren. Der parasympathetische Zweig hingegen gewöhnt den alarmierten Organismus an den Reiz und bringt ihn wieder in homöostatisches Gleichgewicht, so dass von ihm beherrschte Individuen friedlich wären. Duffy hatte vorgeschlagen, diese beiden Klassen von Individuen als labil und stabil zu bezeichnen; und diese Klassifikation, wenn auch nicht so berühmt wie Extroversion und Introversion, war ebenso solide auf empirisches Beweismaterial gegründet und ebenso nützlich, um Verschiedenheiten des Temperaments zu verstehen.
Nun sagte aber keines dieser Systeme dem Forscher besonders viel über die gesamte Natur der untersuchten Person. Die Ausdrücke waren so allgemein, sie waren Zusammenfassungen so vieler Züge, dass sie nur sehr wenig in irgendeinem diagnostischen Sinn aussagten, besonders da beide in der aktuellen Besetzung Gaußsche Fehlerkurven darstellten.
Aber wenn man die beiden Systeme kombinierte, begann es wirklich interessant zu werden.
Das war kein leichtes Unterfangen, und Michel hatte allerhand Zeit an seinem Computerschirm verbracht und eine Kombination nach der anderen skizziert. Dabei benutzte er die beiden unterschiedlichen Systeme als x- und y- Achsen in verschiedenen Koordinatensystemen. Nichts davon hatte ihm viel zu sagen. Aber dann fing er an, die vier Terme um die Ausgangspunkte eines semantischen Rechtecks nach Greimas herumzuschieben, ein strukturalistisches Schema alchemistischer Herkunft, wonach keine einfache Dialektik genügen würde, die wahre Komplexität irgendeiner Gruppe verwandter Konzeptionen zu beschreiben, so dass es nötig wäre, die reale Differenz zwischen zwei gegensätzlichen Dingen anzuerkennen. Der Begriff ›nicht-X‹ wäre nicht genau dasselbe wie ›Anti-X‹, was unmittelbar einleuchtete. Also war die erste Stufe gewöhnlich gekennzeichnet durch Anwendung der vier Terme S, -S, S und -S in einem einfachen Rechteck:
Also war -S ein einfaches Nicht-S, und S war stärker als Anti-S, während -S für Michel eine schädelspalterische Negation einer Negation war — entweder eine Neutralsierung der anfänglichen Opposition oder die Vereinigung der zwei Negationen. In der Praxis blieb das oft ein Mysterium oder koan. Aber manchmal wurde es klar als eine Idee, die die konzeptuelle Einheit recht hübsch vervollständigte, wie in einem Beispiel von Greima:
Der nächste Schritt in der Komplikation des Schemas, der Schritt, wo neue Kombinationen oft strukturelle Beziehungen enthüllten, die oberflächlich keineswegs zu erkennen waren, bestand darin, ein anderes Rechteck zu konstruieren, das das erste rechtwinklig umspannte, etwa so:
Und Michel hatte verwundert dieses Schema angestarrt — mit Extroversion, Introversion, Labilität und Stabilität an den ersten vier Ecken, und deren Kombinationen erwogen. Plötzlich war alles deutlich geworden. Ein Kaleidoskop hatte zufällig die Darstellung einer Rose getroffen. Denn das ergab vollkommen Sinn. Da waren Extrovertierte, die reizbar waren, und Extrovertierte, die ausgeglichen waren; und es gab Introvertierte, die recht emotional waren, und solche, die es nicht waren. Er konnte unter den Kolonisten sofort Beispiele für alle vier Typen finden.
Als er über Namen nachdachte, die er diesen kombinierten Kategorien geben sollte, hatte er lachen müssen. Unglaublich! Es war geradezu eine Ironie zu denken, dass er die Ergebnisse eines Jahrhunderts psychologischen Denkens benutzt hatte und eine der jüngsten Laboratoriumsforschungen in Psychophysiologie, ganz zu schweigen von einem komplizierten Apparat aus der strukturalistischen Alchemie — das alles, um das antike System der Humore neu zu erfinden. Aber das war es! Darauf lief es hinaus! Denn die nördliche Kombination, extrovertiert und stabil, war offenkundig das, was Hippokrates, Galen, Aristoteles, Trismegistos, Wundt und Jung sanguinisch genannt hätten.
Der westliche Punkt, extrovertiert und labil, war cholerisch. Im Osten war introvertiert und stabil phlegmatisch. Und im Süden war introvertiert und labil natürlich genau die Definition von melancholisch. Jawohl, die passten alle genau! Galens physiologische Erklärung für die vier Temperamente war natürlich falsch gewesen, und Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle waren als kausale Agentien jetzt durch das aufsteigende retikulare Aktivierungssystem und das autonome Nervensystem ersetzt worden. Aber die Wahrheiten der menschlichen Natur hatten Bestand gehabt. Und die Kräfte psychologischer Einsicht und analytischer Logik der ersten griechischen Ärzte hatten sich als ebenso stark, oder eher noch viel starker erwiesen denn die jeder nachfolgenden Generation, die durch eine oft nutzlose Ansammlung von Wissen getäuscht wurde. Und so hatten die Kategorien überdauert und waren bestätigt worden im Laufe der Zeiten.
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