»Das verdammte Ding hat mich beinahe zerquetscht!« brüllte sie Arkady nach vorn zu, als sie den Helm abgenommen hatte. Während er arbeitete, den Anker loszuhaken, stolperte sie im Innern der Gondel herum, griff sich Dinge, die sie nicht brauchen würden, und warf sie in den Bombenschacht. Eine Lampe, eine der Matratzen, die meisten Küchenutensilien und Essgeschirr, einige Bücher, alle Gesteinsproben. Dann ging sie in den Schacht und ließ alles fröhlich hinunterplumpsen. Sie dachte, falls jemals ein Reisender auf diesen Haufen stoßen würde, er sich bestimmt wundern würde, was da passiert war.
Sie mussten beide Propeller mit voller Kraft laufen lassen, um den Anker frei zu bekommen. Als es ihnen endlich gelang, flogen sie dahin wie ein welkes Blatt im November. Sie ließen die Motoren weiter voll laufen, um so schnell wie möglich Höhe zu gewinnen. Es lagen einige kleine Vulkane zwischen Olympus und Tharsis, und Arkady wollte einige hundert Meter über ihnen fahren. Der Radarschirm zeigte, dass Ascraeus Mons hinter ihnen zurückblieb. Als sie gut nördlich von ihm waren, konnten sie nach Ost wenden und versuchen, einen Kurs um die Nordflanke von Tharsis zu finden und dann hinab nach Underhill.
Aber im Verlauf der langen Stunden stellten sie fest, dass der Wind den Nordhang von Tharsis herabgebraust kam, genau ihnen entgegen, so dass sie auch bei voller Kraft nach Südosten gewandt höchstens nach Nordosten vorankommen konnten. Bei den Versuchen, gegen den Wind zu kreuzen, hüpfte die arme Arrowhead wie ein Gleitflieger und riss sie auf und ab, auf und ab, als ob die Gondel unter einem Trampolin befestigt wäre. Aber trotz allem kamen sie nicht in der gewünschten Richtung voran.
Es wurde wieder dunkel. Sie wurden weiter nach Nordosten getrieben. Bei diesem Kurs würden sie Underhill um einige hundert Kilometer verfehlen. Und dahinter nichts, überhaupt keine Siedlungen, keine Zuflucht. Sie würden über Acidalia geblasen werden, hinauf zu Vastitas Borealis und dem leeren versteinerten Meer schwarzer Dünen. Und sie hatten nicht genug Nahrung und Wasser, um den Planeten noch einmal zu umrunden und es noch einmal zu versuchen.
Nadia fühlte Staub in Mund und Augen. Sie ging wieder in die Küche und erwärmte ihnen eine Mahlzeit. Sie war schon erschöpft, und als der Geruch von Essen die Luft erfüllte, merkte sie, dass sie auch sehr hungrig war. Außerdem durstig. Und der Wasseraufbereiter wurde mit Hydrazin betrieben …
Bei dem Gedanken an Wasser kam ihr ein Bild von der Fahrt zum Nordpol in den Sinn: Die geborstene Permafrostleitung mit ihrem weißen Schwall von Wasser-Eis. Aber wieso war das wichtig? Wieso kreisten ihre Gedanken um dieses Bild?
Sie begab sich wieder ins Cockpit, wobei sie sich bei jedem Schritt an einer Wand festhielt. Sie aß mit Arkady eine kleine Mahlzeit. Staub knirschte zwischen den Zähnen. Arkady wandte keinen Blick vom Radarschirm und sagte nichts. Aber er sah besorgt aus.
Ah! »Schau«, sagte sie, »wenn es uns gelänge, die Signale von den Transpondern auf unserer Straße zu Chasma Borealis zu empfangen, könnten wir dort landen. Dann könnte ein Robot-Rover ausgeschickt werden, um uns zu holen. Der Sturm würde den Rovern nichts ausmachen, da sie sowieso nicht auf Sicht fahren. Wir könnten die Arrowhead vertäut dalassen und nach Hause fahren.«
Arkady sah sie an und hörte auf zu kauen. »Eine gute Idee«, sagte er.
Aber nur, wenn sie die Signale des Transponders wirklich empfangen konnten. Arkady drehte am Radio und rief Underhill. Die Verbindung knisterte von Störungen, die fast so stark waren wie der Staub; aber sie konnten sich dennoch verständlich machen. Während der ganzen Nacht konferierten sie mit den Leuten zu Hause, diskutierten Frequenzen, Bandbreiten, das Maß, wie der Staub die recht schwachen Signale des Transponders überdecken könnte, und so weiter. Weil die Transponder nur dafür konstruiert waren, Rovern, die in der Nähe und auf dem Boden waren, Signale zu übermitteln, würde es problematisch sein, sie zu hören. Underhill könnte imstande sein, ihre Position gut genug zu bestimmen, um ihnen mitzuteilen, wann sie heruntergehen müssten; und ihre eigene Radarkarte würde ihnen auch eine allgemeine Ortung der Straße liefern. Aber keine dieser Methoden war exakt genug, und es wäre fast unmöglich, die Straße in dem Sturm zu finden, wenn sie nicht direkt auf ihr landeten. Zehn Kilometer nach beiden Seiten, und sie läge hinter dem Horizont. Dann hätten sie Pech gehabt. Es wäre viel sicherer, wenn sie sich an eines der Transpondersignale anhängen und ihm nach unten folgen könnten.
Für jeden Fall schickte Underhill einen Robotrover auf die Straße nach Norden. Er würde in etwa fünf Tagen in dem Gebiet der Straße ankommen, das sie wahrscheinlich kreuzen würden. Bei ihrer derzeitigen Geschwindigkeit von fast dreißig Kilometern pro Stunde würden sie selbst in etwa vier Tagen dort eintreffen.
Als die Vereinbarungen getroffen waren, lösten sie sich während des Restes der Nacht bei der Wache ab.
Nadia schlief schlecht, wenn sie Freiwache hatte, lag einen großen Teil der Zeit auf dem Bett und fühlte, wie der Wind sie umherstieß. Die Fenster waren so dunkel, als wären Vorhänge zugezogen. Das Brüllen des Windes war wie ein Gasofen und manchmal wie von Todesengeln. Einmal träumte ihr, sie wäre in einem großen Hochofen voller Feuerdämonen. Sie wachte schwitzend auf und ging nach vorn, um Arkady abzulösen. Die ganze Gondel roch nach Schweiß, Staub und verbranntem Hydrazin. Trotz allen Mikronsiegeln der Dichtungen lag auf allen Flächen in der Gondel ein sichtbarer weißlicher Belag. Sie wischte mit den Fingern über ein blaues Kunststoffschott und starrte auf deren Spuren. Unglaublich.
Sie hüpften dahin in trüben Tagen und in der sternlosen Finsternis der Nächte. Das Radar zeigte etwas, das sie für den Fesenkov-Krater hielten, der unter ihnen dahinzog. Dann wurden sie noch weiter nach Norden geschoben, und es gab absolut keine Chance, dem Sturm Trotz zu bieten und nach Süden bis Underhill zu gelangen. Die Polstraße war ihre einzige Hoffnung. Nadia sah sich in ihren Freiwachen nach Dingen um, die sie über Bord werfen könnten. Sie schnitt Teile des Gondelrahmens weg, die sie für unwesentlich hielt, dass es die Ingenieure in Friedrichshafen gegraust hätte. Aber Deutsche pflegten es als Ingenieure immer zu übertreiben; und niemand auf der Erde konnte sich überhaupt die Marsschwere wirklich vorstellen. Also sägte und hämmerte sie, bis alles in der Gondel fast zu einem Nichts aus Gitterwerk geworden war. Jede Benutzung des Schachts brachte eine neue kleine Staubwolke herein; aber sie meinte, dass es das wert sei. Sie brauchten den Auftrieb. Die Windmühleninstallation lieferte den Batterien nicht genug Strom, und sie hatte den Rest davon längst über Bord geworfen. Aber selbst wenn sie sie noch hätten, hätte sie sich nicht wieder unter das Luftschiff begeben, um sie zu montieren.
Die Erinnerung an den Vorfall ließ sie immer noch erschauern. Statt dessen schnitt sie immer mehr weg. Sie hätte auch Teile vom Gerippe des Luftschiffs abgeworfen, wenn sie zwischen die Ballonets hätte gelangen können.
Während sie damit beschäftigt war, tapste Arkady in der Gondel herum und feuerte sie an — nackt und von Staub verkrustet, der leibhaftige rote Mann, sang Lieder und beobachtete den Fernsehschirm, schlang schnelle Mahlzeiten hinunter und plante ihren Kurs nach Lage der Dinge. Es war unmöglich, nicht von seiner Heiterkeit angesteckt zu werden und mit ihm über die stärksten Windstöße zu staunen und den Staub allmählich sogar im Blut fliegen zu fühlen.
Und so vergingen drei lange anstrengende Tage im harten Griff des dunkelorangefarbenen Windes. Und am vierten Tag, kurz nach Mittag, drehten sie den Radioempfänger auf volle Lautstärke und hörten die Störungen auf der Transponderfrequenz knistern. Nadia wurde durch die Konzentration auf das weiße Rauschen dösig, denn sie hatte nur wenig Schlaf gehabt. Sie war fast bewusstlos, als Arkady etwas sagte; und sie fuhr in ihrem Sitz hoch.
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