Vier Tage später waren sie vom Eis herunter. Während sie ihre Route rückwärts zu Phyllis und George verfolgten, rollten die drei Reisenden über eine Steigung und hielten an. Am Horizont war eine Struktur. Aus dem flachen Sediment des Chasmabodens ragte ein klassischer griechischer Tempel empor, sechs dorische Säulen aus weißem Marmor, überdeckt von einem runden Flachdach.
»Was, zum Teufel …?«
Beim Näher kommen sahen sie, dass die drei Säulen aus Eistrommeln des Schürfers bestanden, die man aufeinander getürmt hatte. Die Scheibe, die als Dach diente, war roh ausgehauen.
»Georges Idee«, sagte Phyllis über Radio.
»Ich habe bemerkt, dass die Eiszylinder ebenso groß waren wie die Marmortrommeln, die die Griechen für ihre Säulen benutzt haben«, sagte George, der sichtlich mit sich zufrieden war. »Danach lag es auf der Hand.
Und der Schürfer läuft perfekt. Also konnten wir etwas die Zeit totschlagen.«
»Es sieht großartig aus«, sagte Simon. Und da hatte er recht. Ein fremdartiges Bauwerk schimmerte traumhaft wie Fleisch in den langen Dämmerungszeiten, als ob Blut unter seinem Eis flösse. »Ein Tempel für Ares.«
»Für Neptun«, korrigierte George. »Ich glaube nicht, dass wir Ares allzu oft beschwören sollten.«
»Besonders in Anbetracht der Leute im Basislager«, sagte Ann.
Während sie nach Süden fuhren, zog sich ihre Bahn aus Radspuren und Transpondern vor ihnen her, so deutlich wie jede Fernstraße mit einer Betondecke. Es war nicht nötig, dass Ann darauf hinwies, wie sehr dies das Gefühl ihrer Reise veränderte. Sie erforschten nicht mehr unberührtes Land, und die Natur der Landschaft selber war verändert, in links und rechts gespalten durch die parallelen Linien quergerippter Reifenspuren und durch die grünen, vom Staub leicht mattierten Kanister, die alle ›den Weg‹ markierten. Es war nicht mehr Wildnis. Darauf kam es ja beim Straßenbau auch an. Sie konnten das Fahren dem automatischen Piloten von Rover Drei überlassen, und taten das auch oft.
Also gondelten sie mit dreißig km/h dahin mit nichts weiter zu tun, als die zweigeteilte Aussicht zu genießen oder miteinander zu reden, was sie nicht häufig taten, außer an dem Morgen, wo sie in eine hitzige Diskussion über Frank Chalmers gerieten. Ann erklärte ihn für einen abgefeimten Machiavellisten. Phyllis bestand darauf, dass er nicht schlimmer wäre als jeder beliebige Machthaber. Nadia erinnerte sich an ihre Gespräche mit ihm über Maya und wusste, dass es komplizierter war als eine dieser beiden Ansichten. Aber Anns Mangel an Diskretion machte sie bestürzt; und als Phyllis weiter damit fortfuhr, wie Frank sie in den letzten Monaten der Ausreise zusammengehalten hätte, sah Nadia Ann scharf an, um ihr mit Blicken klarzumachen, dass sie zu dem falschen Publikum redete. Phyllis wurde ihre Indiskretionen später gegen sie verwenden. Das war klar. Aber Ann verstand sich schlecht darauf, Blicke zu deuten.
Dann bremste der Rover plötzlich und blieb stehen. Niemand hatte aufgepasst, und sie sprangen alle zum Frontfenster.
Vor ihnen befand sich eine flache weiße Fläche, die ihre Straße auf fast hundert Meter bedeckte. »Was ist das?« schrie George.
»Unsere Permafrostpumpe«, sagte Nadia und zeigte hin. »Sie muss versagt haben?«
»Oder hat zu gut gearbeitet«, sagte Simon. »Das ist Wasser-Eis!«
Sie schalteten den Rover auf Handsteuerung und fuhren näher heran. Das Übergelaufene bedeckte die Straße wie eine Tünche aus weißer Lava. Sie zwängten sich in ihre Anzüge und gingen zum Ende des Ergusses.
»Unsere private Eisbahn«, sagte Nadia und ging zur Pumpe. Sie löste das Isolationspolster und warf einen Blick hinein. »Aha — ein Leck in der Isolation. Genau hier ist Wasser gefroren und hat den Sperrhahn in Stellung ›offen‹ blockiert. Ein ganz anständiger Druck, möchte ich sagen. Ist gelaufen, bis es dick genug einfror, um es zum Stillstand zu bringen. Ein Hammerschlag könnte uns einen kleinen Geyser bescheren.«
Sie ging zu ihrem Werkzeugfach unterhalb des Moduls und holte eine Spitzhacke heraus. »Aufpassen!« Sie schlug einmal auf die weiße Eismasse dort, wo die Pumpe mit dem Zuleitungsrohr für den Tank verbunden war. Ein dicker Wasserschwall spritzte ein Meter hoch in die Luft. »Oha!« Er platschte dampfend auf die weiße Eisfläche, wo er binnen Sekunden gefror und sich auf dem dort schon vorhandenen Eis wie in weißen Blütenblättern ausbreitete. »Seht euch das an!«
Auch das ganze Loch fror zu, der Wasserstrom hörte auf, und der Dampf wurde davongetragen.
»Schaut, wie schnell es gefroren ist!«
»Sieht genau so aus wie diese Spritzkrater«, bemerkte Nadia grinsend. Es war ein wundervoller Anblick gewesen, wie Wasser ausströmte und wie verrückt dampfte, als es einfror.
Nadia klopfte an dem Eis um das Sperrventil herum, während Ann und Phyllis über Wanderung von Permafrost und Wassermengen in dieser Breite etc. etc. diskutierten. Man möchte meinen, sie wären dessen überdrüssig geworden. Aber sie mochten einander wirklich nicht und konnten nicht aufhören. Es wäre die letzte Reise, die sie zusammen unternehmen würden, das war sicher. Nadia hatte keine Lust, jemals wieder mit Phyllis, George und Edvard zu reisen. Die waren zu selbstgefällig und zu sehr eine kleine intime Gruppe für sich. Aber auch Ann war etlichen anderen Leuten entfremdet. Wenn sie nicht Acht gäbe, würde sie überhaupt niemanden haben, um sie auf ihren Fahrten zu begleiten. Zum Beispiel Frank — die Bemerkung über ihn neulich in der Nacht und dann ausgerechnet Phyllis erzählen, wie schrecklich er war — entsetzlich!
Und wenn sie sich von allen außer Simon entfremdete, würde sie nach Konservation lechzen; denn Simon Frazier war der stillste Mann der ganzen Expedition. Er hatte während der ganzen Länge der Reise kaum zwanzig Sätze gesprochen. Es war geradezu unheimlich, als ob man mit einem Taubstummen führe. Außer, er redete vielleicht mit Ann, wenn sie allein waren. Wer konnte das wissen?
Nadia brachte das Ventil in Sperrstellung und schaltete dann die Pumpe ab. »Wir werden hier so weit im Norden dickere Isolierung brauchen«, sagte sie zu niemandem im besonderen, als sie ihr Werkzeug wieder zum Rover brachte. Sie war all der Intrigen müde und wollte wieder ins Basislager zurück und an ihre Arbeit. Sie wollte mit Arkady sprechen. Er würde sie zum Lachen bringen. Und ohne es zu versuchen oder auch nur genau zu wissen, wie, würde sie ihn auch zum Lachen bringen.
Sie taten ein paar Stücke von dem übergelaufenen Eis zu den übrigen Proben und stellten um die Stelle vier Transponder auf, um Robotpiloten darum herumzuführen. »Obwohl es wegsublimieren könnte, nicht wahr?« sagte Nadia.
Ann war in Gedanken versunken und hörte die Frage nicht. Sie murmelte vor sich hin: »Hier oben gibt es eine Menge Wasser.« Sie wirkte besorgt.
Phyllis rief: »Du hast verdammt recht, das gibt es. Warum werfen wir jetzt keinen Blick auf jene Bestände, die wir am Nordende von Mareotis geortet haben?«
Als sie der Basis näher kamen, wurde Ann noch wortkarger und zurückgezogener. Ihr Gesicht war unbewegt wie eine Maske. »Was ist los?« fragte Nadia eines Abends, als sie zusammen kurz vor Sonnenuntergang im Freien waren und einen defekten Transponder reparierten.
»Ich will nicht zurückgehen«, sagte Ann. Sie kniete bei einem freistehenden Felsblock und klopfte daran herum. »Ich wünschte mir, dass dieser Trip kein Ende hätte. Ich möchte die ganze Zeit unterwegs sein, hinab in die Canyons, hinauf auf die Vulkanränder, hinein in das Chaos und die Berge um Hellas. Ich werde nie aufhören wollen.« Sie seufzte. »Aber … ich bin ein Teil des Teams. Also muss ich wieder in das elende Loch zurückkrabbeln zu all den anderen.«
»Ist das wirklich so schlimm?« fragte Nadia und dachte an ihre schönen Tonnengewölbe, das dampfende Strudelbad und ein Glas eisgekühlten Wodkas.
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