Sie durchquerten immer mehr Strudeltäler und verfielen wieder in das alte Muster eines Schiffs über den Wellen. Diesmal waren es die bisher größten Wellen, vierzig Kilometer von Kamm zu Kamm. Sie benutzten die Uhren, um einen Zeitplan einzuhalten, und parkten von zehn bis siebzehn Uhr auf kleinen Hügeln oder eingesunkenen Kraterrändern, um während der Pausen ein Bild vor Augen zu haben. Und sie verdunkelten die Fenster mit doppelter Polarisation, um nachts etwas Schlaf zu bekommen.
Dann, als sie eines Morgens dahinknirschten, stellte Ann das Radio an und begann mit den areosynchronen Satelliten Kontrollmessungen auszuführen. Sie sagte bei der Arbeit: »Es ist nicht leicht, den Pol zu finden. Die frühen Forschungsreisenden auf der Erde hatten es im Norden höllisch schwer. Sie waren immer im Sommer dort und konnten die Sterne nicht sehen. Sie hatten noch keine Satellitenpeilungen.«
»Wie haben sie es dann gemacht?« fragte Nadia, plötzlich neugierig geworden.
Ann dachte darüber nach und lächelte. »Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich nicht sehr gut, fürchte ich. Vermutlich Koppelnavigation.«
Nadia wurde von diesem Problem gepackt und fing an, auf einem Skizzenblock daran zu arbeiten. Geometrie war nie ihre Stärke gewesen. Aber vermutlich würde die Sonne am Mittsommertag einen perfekten Kreis um den Horizont beschreiben, ohne höher oder tiefer zu gehen. Wenn man also in Nähe des Pols war und fast am Mittsommertag, könnte man die Höhe der Sonne über dem Horizont von Zeit zu Zeit messen … War das richtig?
»Das ist es«, sagte Ann.
»Was?«
Sie hielten den Rover an und sahen sich um. Die weiße Ebene erstreckte sich in Wellen bis zum nahen Horizont, ohne Merkmale außer einigen breiten roten Konturlinien. Diese Linien bildeten keine konzentrischen Kreise um sie herum, und es sah nicht so aus, als hätten sie irgendeinen Höhepunkt erreicht.
»Wo genau?« fragte Nadia.
»Nun, irgendwie gerade nördlich von hier.« Ann lächelte wieder. »Innerhalb von einem oder zwei Kilometern. Vielleicht in dieser Richtung.« Sie zeigte nach rechts. »Wir werden ein Stück dort hinübergehen und mit dem Satelliten wieder kontrollieren müssen. Ein wenig Triangulation, und wir sollten imstande sein, ihn auf den Kopf zu treffen. Jedenfalls plus oder minus etwa hundert Meter.«
»Wenn wir uns die Zeit nähmen, könnten wir es auf plus oder minus ein Meter bringen«, sagte Simon begeistert. »Lasst es uns genau festlegen!«
Also fuhren sie eine Minute lang weiter, befragten das Radio, machten nach rechts kehrt und fuhren weiter. Dann berieten sie sich wieder. Schließlich erklärte Ann, sie wären dort, oder nahe genug. Simon wies den Computer an, weiter daran zu arbeiten, und sie zogen sich an, gingen hinaus und wanderten etwas umher, um sich zu vergewissern, dass sie den Pol betreten hatten. Ann und Simon bohrten ein Loch. Nadia ging weiter, in einer Spirale, die vom Wagen wegführte. Eine rötliche weiße Ebene, der Horizont etwa vier Kilometer entfernt — zu nahe. Es überkam sie jäh, wie bei dem schwarzen Sonnenuntergang, dass dies fremdartig war. Eine scharfe Empfindung der Nähe des Horizonts, die traumhaft geringe Schwere, eine Welt, die nur eben so groß war und nicht größer … Und jetzt stand sie genau auf deren Nordpol. Es war Ls = 92, so nahe dem Mittsommer, wie man verlangen konnte. Wenn sie also dastand, die Sonne direkt vor sich, und sich nicht bewegte, dann würde diese in gleicher Höhe bleiben und den Rest des Tages um sie kreisen, oder auch den Rest der Woche! Das war fremdartig. Sie drehte sich wie ein Kreisel. Wenn sie lange genug still stand, würde sie es dann fühlen?
Ihre polarisierte Visierscheibe reduzierte den Glanz der Sonne auf dem Eis zu einem Bogen aus kristallinen regenbogenfarbigen Punkten. Es war nicht sehr kalt. Sie konnte nur gerade eine Brise mit ihrer erhobenen Handfläche spüren. Ein lieblicher roter Streifen aus abgelagertem Schichtmaterial lief wie eine geographische Länge markierende Linie über den Horizont. Sie lachte bei diesem Gedanken. Um die Sonne herum war ein sehr schwacher Eisring, so groß, dass sein unterer Bogen eben den Horizont berührte. Eis sublimierte von der Polkappe und schimmerte oben in der Luft. Dadurch entstanden die Kristalle in dem Ring. Grinsend stampfte sie die Abdrücke ihrer Stiefel in den Nordpol des Mars.
An diesem Abend stellten sie die Polarisatoren so ein, dass sie ein sehr gedämpftes Bild der weißen Wüste in den Fenstern des Moduls umgab. Nadia hatte sich zurückgelehnt mit einer leeren Ess-Schüssel im Schoß und trank eine Tasse Kaffee. Die Digitaluhr sprang von 23.59.59 auf 0.00.00 und hielt an. Ihre Ruhe betonte die Stille im Wagen. Simon schlief, Ann saß im Fahrersitz und starrte auf die Szene hinaus. Sie hatte ihr Abendessen zur Hälfte verspeist. Kein Laut außer dem Summen des Ventilators. Nadia sagte: »Ich freue mich, dass du uns hier heraufgebracht hast. Es war großartig.«
»Irgendwer sollte sich darüber freuen«, erwiderte Ann. Wenn sie ärgerlich oder mürrisch war, wurde ihre Stimme flach und distanziert. »Es wird hier nicht lange so bleiben.«
»Bist du sicher, Ann? Das Eis ist hier fünf Kilometer tief, hast du doch gesagt. Denkst du wirklich, dass es vollkommen verschwinden wird, bloß weil schwarzer Staub darauf liegt?«
Ann zuckte die Achseln. »Es kommt darauf an, wie warm wir es machen. Und wie viel Wasser es insgesamt auf dem Planeten gibt, und wie viel von dem Wasser im Regolith an die Oberfläche gelangen wird, wenn wir die Atmosphäre heizen. Wir wissen von all diesen Dingen nichts, ehe sie eintreten. Aber ich fürchte, dass diese Kappe, da sie der primär exponierte Wasserkörper ist, gegen Veränderungen am empfindlichsten sein wird. Sie könnte gänzlich wegsublimieren, ehe ein bedeutsamer Teil des Permafrostes geschmolzen ist.«
»Völlig?«
»Oh, gewiss wird jeden Winter etwas abgelagert werden. Aber das ist gar nicht so viel Wasser, wenn man es aus globaler Perspektive betrachtet. Dies ist eine trockene Welt, die Atmosphäre ist superarid. Antarctica wirkt daneben wie ein Dschungel. Und denk daran, wie dieser Ort uns auszudörren versuchte. Wenn also die Temperaturen hoch genug ansteigen, wird das Eis wirklich in sehr hohem Tempo sublimieren. Diese ganze Kappe wird sich in die Atmosphäre verlagern und nach Süden geweht werden, wo sie bei Nacht ausfriert. Also wird sie im Effekt wieder gleichmäßig über den ganzen Planeten verteilt werden, in einer Schicht von ungefähr einem Zentimeter Dicke.« Sie zog eine Grimasse. »Natürlich noch weniger; denn das meiste davon wird in der Luft bleiben.«
»Wenn es aber noch wärmer wird, wird der Reif schmelzen, und es wird regnen. Dann haben wir Flüsse und Seen, nicht wahr?«
»Falls der atmosphärische Druck hoch genug ist. Flüssiges Oberflächenwasser hängt ebenso vom Luftdruck ab wie von der Temperatur. Wenn beide steigen, könnten wir in einigen Jahrzehnten hier auf Sand herumlaufen.«
»Das wird eine beachtliche Meteoritensammlung ergeben«, sagte Nadia im Versuch, Anns Stimmung zu heben.
Das klappte nicht. Ann zog den Mund zusammen, starrte aus dem Fenster und schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht konnte so traurig sein. Das ließ sich nicht allein dem Mars zuschreiben. Da musste noch mehr dran sein, etwas, das diesen starken inneren Krampf und diesen Ärger erklärte. Es fiel schwer zuzusehen. Wenn Maya unglücklich war, war es, als ob Ella Fitzgerald einen Blues sänge. Man wusste, es war aufgesetzt. Der Überschwang strömte einfach hindurch. Aber wenn Ann unglücklich war, schmerzte es hinzusehen.
Jetzt nahm sie ihre Schüssel mit Lasagne und lehnte sich zurück, um sie in die Mikrowelle zu tun. Hinter ihr schimmerte die weiße Ferne unter einem schwarzen Himmel, als ob die Welt draußen ein fotografisches Negativ wäre. Die Uhr sprang auf 0.00.01.
Читать дальше