Sodann erforderten die Materialien, welche die Wissenschaftler benötigten, um ihre Fabriken in Gang zu setzen, und die Leute, die den Kernreaktor montierten, ständig ihre Aufsicht. Sie wurden auch nicht von Arkady getröstet, der vom Phobos per Funk hartnäckig erklärte, sie würden keine so gefährliche Technik benötigen und sollten alle erforderliche Energie durch Windgeneratoren erzeugen. Er und Phyllis stritten heftig darüber. Dann war es Hiroko, die Arkady mundtot machte mit dem, was sie als ein japanisches Sprichwort bezeichnete: »Shikata ga nai«, was bedeutete: »Es gibt keine andere Wahl.« Windmühlen hätten genügend Energie erzeugt, wie Arkady behauptete. Aber sie hatten keine. Statt dessen hatte man ihnen einen Rickover-Kernreaktor geliefert, von der Navy gebaut und ein prächtiges Stück. Niemand hatte Lust, sich auf das Risiko eines Windkraftsystems einzulassen. Sie hatten zu große Eile. Shikata na gai. Das wurde bei ihnen zu einer oft wiederholten Redensart.
Und so bat das Bauteam von Tschernobyl (der Name stammte natürlich von Arkady) Nadia, mit ihnen hinauszugehen und die Aufsicht zu übernehmen. Man hatte sie weit in den Osten der Siedlung verbannt, so dass es Sinn machte, mit ihnen einen vollen Tag hinzugehen. Aber dann forderten die Mediziner ihre Hilfe für den Bau einer Klinik und mehrerer Labors darin aus einigen aufgegebenen Frachtbehältern, die sie gerade in Unterkünfte verwandelten. Anstatt also draußen bei Tschernobyl zu bleiben, ging sie dann mittags zum Essen heim und half dem medizinischen Team. Jeden Abend brach sie erschöpft zusammen.
Einige Abende zuvor hatte sie lange Gespräche mit Arkady oben auf Phobos. Dessen Leute hatten Schwierigkeiten mit der Mikrogravitation dieses Mondes, und auch er wollte ihren Rat. Er sagte: »Wenn wir nur etwas g bekommen könnten, nur um zu wohnen und zu schlafen.«
Nadia schlug leicht verstört vor: »Macht aus einem der Tanks der Ares einen Zug und lasst ihn auf Schienen rundherum fahren! Geht an Bord und fahrt so schnell, dass ihr etwas Beschleunigung gegen das Dach des Zuges bekommt!«
Rauschen, dann gackerte Arkady wild los. »Nadezhda Francine, ich liebe dich, ich liebe dich!«
»Du liebst Schwerkraft.«
Bei all dieser Beratertätigkeit ging der Bau ihrer eigenen permanenten Unterkunft recht langsam voran. Nur einmal in der Woche konnte Nadia in einen offenen Mercedes klettern und über den zerwühlten Boden zum Ende des Grabens fahren, den sie angefangen hatte auszuheben. An dieser Stelle war er zehn Meter breit, fünfzig lang und vier tief, was die von ihr gewünschte Tiefe war. Der Boden des Grabens war der gleiche wie an der Oberfläche: Ton, Grus, Steine aller Größe. Regolith. Während sie mit dem Bulldozer arbeitete, kletterten die Geologen in das Loch hinein und heraus, nahmen Proben und sahen sich um, sogar Ann, der es nicht gefiel, wie sie den Boden aufrissen. Aber kein Geologe, der jemals geboren worden war, konnte sich von einem Landaufschluß fernhalten. Nadia lauschte bei ihrer Arbeit deren Gesprächen. Sie meinten, der Regolith wäre so ziemlich der gleiche bis hinab zum Muttergestein. Und das war sehr schade; denn Regolith war nicht das, was sich Nadia als idealen Baugrund vorstellte. Zumindest war sein Wassergehalt niedrig, unter einem Zehntel Prozent, was bedeutete, sie würden unter einem Fundament nicht viel Einbrüche und Wegrutschen erleben, wie es zu den ständigen Alpträumen des Bauens in Sibirien zählte.
Nachdem sie den Regolithboden begradigt hatte, begann sie mit einem Fundament aus Portlandzement, dem besten Beton, den sie mit den verfügbaren Materialien machen konnten. Der würde brechen, falls sie ihn nicht zwei Meter dick gossen. Aber shikata na gai. Die Dicke würde eine gewisse Isolation schaffen. Aber sie müsste den Schlamm in einen Behälter füllen und erwärmen, damit er abbinden könnte. Das würde nicht unter 13 Grad Celsius geschehen, was Heizelemente erforderte … Langsam … alles ging schrecklich langsam.
Sie fuhr den Bulldozer vorwärts, um den Graben zu verlängern. Er biss sich im Boden fest und bockte. Dann machte sich das Gewicht des Dings geltend, und die Schaufel schnitt in den Regolith und pflügte hindurch. »Was für ein Prachtstück!« sagte Nadia zärtlich zu dem Vehikel.
»Nadia hat sich in einen Bulldozer verliebt«, sagte Maya auf ihrer Welle.
Nadia konterte: »Wenigstens weiß ich, in wen ich verliebt bin.« Sie hatte zu viele Abende der letzten Woche draußen im Werkzeugschuppen mit Maya verbracht und zugehört, wie sie über ihre Probleme mit John plapperte, wie sie in vieler Hinsicht mit Frank wirklich besser zurechtkam, wie sie sich nicht entscheiden konnte, was sie fühlte, und dass Frank sie jetzt sicher hasste undsoweiter undsofort. Nadia hatte beim Werkzeugsäubern gesagt da, da, da und sich bemüht, ihr mangelndes Interesse zu verbergen. In Wahrheit war sie der Probleme Mayas überdrüssig und hätte lieber über Baumaterialien oder sonst etwas anderes diskutiert.
Ein Anruf von der Tschernobylgruppe erreichte sie auf dem Bulldozer. »Nadia, wie können wir so dicken Zement in der Kälte zum Abbinden bringen?«
»Erwärmen!«
»Machen wir schon.«
»Stärker erwärmen!«
»Oh!« Nadia meinte, dass sie da draußen schon fast fertig wären. Der Rickover war größtenteils schon vormontiert. Es war jetzt an der Zeit, die Formen zusammenzufügen, den stählernen Umhüllungstank einzupassen, die Rohre mit Wasser zu füllen (wodurch ihr Vorrat auf fast Null sank), alles zu verkabeln, Sandsäcke darum aufzuschichten und die Kontrollstäbe herauszuziehen. Danach würden sie 300 Kilowatt verfügbar haben, was dem Streit darüber ein Ende setzen sollte, wer am nächsten Tag den Löwenanteil an Generatorenergie bekommen könnte.
Es kam ein Anruf von Sax. Einer der Sabattier-Prozessoren war verstopft, und sie konnten das Gehäuse nicht herunterbekommen. Also überließ Nadia die Arbeit mit dem Bulldozer John und Maya und nahm einen Rover zum Fabrikkomplex, um sich die Sache anzusehen. »Ich bin weg, um die Alchemisten zu besuchen«, sagte sie.
»Hast du dir schon einmal bewusst gemacht, wie sehr die Maschinerie hier den Charakter der Industrie ausdrückt, die sie gebaut hat?« bemerkte Sax zu Nadia, als sie ankam und sich bei dem Sabattier ans Werk machte. »Der wurde von Autogesellschaften gebaut, hat geringe Kraft, ist aber zuverlässig: Wenn er von der Flugzeugindustrie gebaut worden wäre, hätte er ungeheure Kraft, würde aber zweimal täglich versagen.«
»Und in Partnerschaft konstruierte Produkte sind fürchterlich«, sagte Nadia.
»Stimmt.«
»Und chemisches Gerät ist heikel«, ergänzte Spencer Jackson.
»Das kann man wohl sagen. Besonders bei diesem Staub.«
Die Luftsammler von Boeing waren nur der Anfang des Fabrikkomplexes gewesen. Deren Gase wurden in große kastenförmige Anhänger gefüllt, um komprimiert und expandiert und dann wieder rekombiniert zu werden mit Hilfe chemisch-technischer Prozesse wie Entfeuchtung, Verflüssigung, fraktionierter Destillation, Elektrolyse, Elektrosynthese, dem Sabattierprozeß, dem Raschigprozeß, dem Oswaldprozeß … Allmählich verfertigten sie immer komplexere Chemikalien, die von einer Fabrik zur nächsten liefen, durch ein Labyrinth von Strukturen, die aussahen wie große Wohnwagen in einem Netz farbiger Tanks und Rohre und Leitungen und Kabel.
Spencers derzeitiges Lieblingsprodukt war Magnesium, das es hier reichlich gab. Sie gewannen fünfundzwanzig Kilo davon aus jedem Kubikmeter Regolith, sagte er. Und es war bei Marsschwere so leicht, dass sich ein großer Barren wie ein Stück Kunststoff anfühlte. Spencer sagte: »In reinem Zustand ist es zu spröde, aber wir legieren es ein bisschen und haben dann ein extrem leichtes und starkes Metall.«
»Martinstahl«, sagte Nadia.
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