Jetzt konnte sie in dem rubinroten Licht des Sonnenuntergangs herumwandern. Ihre alte Jazz-Sammlung aus dem Stereogerät des Habitats in den Kopfhörern ihres Helmes, während sie in Versorgungskästen herumwühlte und jedes Gerät herauspickte, das sie wollte. Sie trug es zu einem kleinen Raum, den sie sich in einem Lagerhaus beschafft hatte, und pfiff dabei mit King Oliver’s Creole Jazz Band vor sich hin, während sie eine Sammlung bereicherte, die unter anderem folgende Stücke enthielt: einen Satz Allen-Schraubenschlüssel, einige Zangen, eine Bohrmaschine, diverse Klammern, einige Bügelsägen, einen Satz Drehmomentschlüssel, einen Satz kälteverträglicher Behelfslitzen, verschiedene Raspeln und Hobel — einen Satz Gabelschlüssel, ein Rändelgerät, fünf Hämmer, einige Arterienklemmen, drei hydraulische Wagenheber, einen Blasebalg, verschiedene Garnituren Schraubendreher, Bohrer und Beitel, einen tragbaren Zylinder für komprimiertes Gas, eine Kiste mit Plastiksprengstoff und Formladungen, ein Bandmaß, ein gigantisches Schweizer Militärmesser, Blechscheren, Pinzetten, eine Abisolierzange, eine Kreuzhacke, diverse Schlägel, einige Gewindeschneider, Schlauchklammern, einen Satz Stirnfräser, einen Satz Uhrmacherschraubenzieher, ein Vergrößerungsglas, alle Arten von Klebeband, Klempnerwerkzeug, eine Nähgarnitur, Scheren, Siebe, eine Drehbank, Wasserwaagen jeder Größe, Spitzzangen, Spannzwingen, Schneidkluppen, drei Schaufeln, einen Kompressor, einen Generator, eine Schweißeinrichtung, eine Schubkarre …
Und so weiter. Das waren ihre Mechaniker-Ausrüstung und ihr Zimmermannswerkzeug. In anderen Teilen des Lagerhauses häuften sich Forschungs- und Laborgeräte an, geologische Apparate und jede Menge an Computern, Radios, Teleskopen und Videokameras. Und das Biosphärenteam besaß ganze Lagerhäuser, um die Farm einzurichten, die Wasser-Aufbereiter, den Mechanismus für Gasaustausch — eigentlich seine ganze Infrastruktur. Die medizinische Abteilung hatte weitere Lagerhäuser für klinischen Bedarf und Forschungslabors und die Einrichtung für genetische Technik. »Du weißt, was das ist«, sagte Nadia eines Abends zu Sax Russell, der sich in ihren Lagerbeständen umschaute. »Es ist eine ganze Stadt, zerlegt und in Teilen umherliegend.«
»Und sogar eine sehr wohlhabende Stadt. Mit erstklassigen Fakultäten für verschiedene Wissensgebiete.«
»Aber noch in Einzelteilen.«
»Ja. Aber mir gefällt sie so irgendwie.«
Bei Sonnenuntergang war es Vorschrift, in die Habitate zurückzukehren. In der Dämmerung stolperten die Leute dann zur Schleuse und hinein und verzehrten auf den Betten sitzend noch eine kalte Mahlzeit. Dabei horchten sie auf die Gespräche, die sich meistens um die Arbeit des nächsten Tages drehten und die Einteilung der Aufgaben für den nächsten Morgen. Frank und Maya sollten das besorgen, aber in Wirklichkeit geschah das spontan, in einer Art von improvisiertem Austausch. Hiroko war dabei besonders gut. Das war eine Überraschung, wenn man bedachte, wie zurückgezogen sie bei der Ausreise gewesen war. Aber jetzt, wo sie Hilfe von außerhalb ihres Teams brauchte, verbrachte sie den größten Teil des Abends damit, dass sie vom einen zum anderen ging, so zielstrebig und überzeugend, dass sie jeden Morgen gewöhnlich eine ansehnliche Gruppe auf der Farm bei der Arbeit hatte. Nadia konnte das nicht recht verstehen. Sie hatte fünf Jahre lang dehydrierte Kost und Dosenkost gegessen, die ihr zusagte, und sie hatte sich überhaupt kaum je für Nahrung interessiert. Sie hätte ebenso gut Heu essen oder sich wie ein Traktor auftanken können. Aber sie brauchten die Farm, um Bambus zu ziehen, den Nadia als Baumaterial in dem permanenten Habitat benutzen wollte, das sie bald zu errichten hoffte. Alles griff ineinander. Alle ihre Aufgaben fügten sich zusammen und waren gegenseitig notwendig. Als also Hiroko sich neben sie hinsetzte, sagte sie. »Ja ja, um acht da sein. Aber du kannst die permanente Farm nicht einrichten, bevor das Basishabitat fertig ist. Also solltest du mir morgen wirklich helfen, nicht wahr?«
»Nein, nein«, sagte Hiroko lachend. »Aber übermorgen, okay?«
Hirokos größter Konkurrent bei Arbeiterwünschen war Sax Russell und seine Mannschaft, die alle Fabriken auf einmal in Gang setzen wollten. Vlad und Ursula und die biomedizinische Gruppe waren darauf aus, ihre Labors aufzustellen und in Betrieb zu nehmen. Diese drei Teams schienen bereit, unbegrenzte Zeit in den Containern zu leben, so lange nur ihre Projekte vorankamen; aber zum Glück gab es eine Menge Leute, die nicht so sehr von ihrer Arbeit besessen waren, Menschen wie Maya und John und die übrigen Kosmonauten, die daran interessiert waren, so bald wie möglich in größere und besser geschützte Quartiere umzuziehen. Von ihnen würde Nadias Projekt also Unterstützung bekommen.
Wenn Nadia mit Essen fertig war, brachte sie ihre Schüssel in die Küche und säuberte sie mit einem kleinen Putzlappen. Dann setzte sie sich zu Ann Clayborne, Simon Frazer und den anderen Geologen. Ann schien fast zu schlafen. Sie machte vormittags Märsche und lange Fahrten mit dem Rover. Dann arbeitete sie den ganzen Nachmittag schwer, um ihre Exkursionen aufzuarbeiten. Nadia fand sie recht angespannt und weniger erfreut, auf dem Mars zu sein, als sie gedacht hatte. Sie schien unwillig, an den Fabriken oder für Hiroko zu arbeiten. Tatsächlich arbeitete sie meistens für Nadia, von der man, da sie nur Unterkünfte zu bauen versuchte, wohl sagen konnte, dass sie dem Planeten weniger Schaden zufügte als die ehrgeizigeren Teams. Vielleicht war es das, vielleicht auch nicht - Ann sagte es nicht. Sie war schwer zugänglich und launisch — nicht auf die extravagante russische Art Mayas, sondern subtiler und, wie Nadia dachte, in einem mehr düsteren Register.
Um sie herum räumten die Leute nach dem Essen auf und redeten. Sie sahen Listen durch und redeten. Sie drängten sich um Computerterminals und redeten, wuschen Wäsche und reinigten ihre Kleider und redeten, bis die meisten ausgestreckt in ihren Betten lagen und mit gedämpften Stimmen weiterredeten, bis sie einschliefen. »Es ist wie die erste Sekunde des Universums«, bemerkte Sax Russell und rieb sich müde das Gesicht. »Alles zusammengedrängt und keine Differenzierung. Nur ein Haufen heißer Partikel, die umhersausen.«
Und das war bloß ein Tag, und der war wie alle Tage, einer nach dem anderen. Keine nennenswerte Wetteränderung außer einem gelegentlichen Wolkenfetzen oder einem besonders windigen Nachmittag. Hauptsächlich verliefen die Tage alle gleichförmig. Alles dauerte länger als geplant. Allein schon das Anlegen des Schutzanzugs und Verlassen der Habitate war anstrengend. Und dann musste die ganze Ausrüstung erwärmt werden. Und obwohl sie nach gleichmäßigen Standards angefertigt war, brachte die internationale Natur der Geräte es mit sich, dass es unvermeidbar Schwierigkeiten beim Zusammenpassen und Funktionieren gab. Und dann der Staub! (»Nennt es nicht Staub!« beklagte sich Ann. »Das ist so, als wenn man Staub als Kies bezeichnet. Nennt es lieber Grus!«) Der drang in alles ein. Und die ganze körperliche Arbeit in der durchdringenden Kälte war so erschöpfend, dass sie langsamer vorankamen, als sie erwartet hatten. Es gab auch einige kleinere Verletzungen. Und schließlich gab es eine erstaunliche Menge von Arbeiten, von denen ihnen manche völlig neu waren. Zum Beispiel brauchten sie etwa einen Monat (sie hatten mit zehn Tagen gerechnet), nur um alle Frachtcontainer aufzumachen, ihren Inhalt zu prüfen und zu den entsprechenden Vorratslagern zu schaffen — dorthin, wo sie dann wirklich mit der Arbeit beginnen konnten.
Danach konnten sie ernsthaft anfangen zu bauen. Und hier war Nadia in ihrem Element. Auf der Ares hatte sie nichts zu tun gehabt. Das war wie eine Art Winterschlaf für sie gewesen. Aber etwas zu bauen war ihr großes Talent, die Natur ihrer Begabung, geübt in der bitteren Schule Sibiriens. Sehr rasch wurde sie der wichtigste Troubleshooter der Kolonie, das Mädchen für alles, wie John sie nannte. Bei fast jeder Aufgabe hatten sie von ihrer Hilfe profitiert; und wenn sie den ganzen Tag umherrannte, um Fragen zu beantworten und Rat zu erteilen, fühlte sie sich in einem zeitlosen Arbeitsparadies und blühte richtig auf. So viel zu tun! Jeden Abend bei den Planungssitzungen ließ Hiroko ihre Tricks spielen, und die Farm kam voran. Drei parallele Reihen von Gewächshäusern, die wie kommerzielle auf der Erde aussahen, nur kleiner und mit dickeren Wänden, damit sie nicht wie Luftballons explodierten. Selbst bei einem Innendruck von nur 300 Millibar, der kaum für Farmbetrieb taugte, war der Unterschied zur Außenseite drastisch. Eine schlechte Abdichtung oder eine schwache Stelle, und sie würden platzen. Aber Nadia verstand sich gut auf Dichtungen bei kaltem Wetter, und deshalb rief Hiroko sie in Panik jeden zweiten Tag zu Hilfe.
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