Und an diesem Abend sprach sie mit Sax über die Arbeit des Tages und mit Spencer über Glas; und mitten drin dabei fiel sie auf ihre Pritsche und kuschelte den Kopf ins Kissen. Sie fühlte sich ganz großartig, und der strahlende Schlußchor von ›Ain’t Misbehauin‹ geleitete sie in den Schlaf.
Aber im Laufe der Zeit ändern sich die Dinge. Nichts dauert, nicht einmal Stein, nicht einmal Glück. Eines Abends sagte Phyllis: »Ist dir klar, dass es schon Ls 170 ist? Sind wir bei Ls 7 gelandet?«
Also waren sie seit einem halben Jahr auf dem Mars. Phyllis benutzte den von Planetenforschern entworfenen Kalender, der unter den Kolonisten gebräuchlicher wurde als das System der Erde. Das Jahr dauerte auf dem Mars 668,6 Tage Ortszeit; und um zu sagen, wo sie sich in diesem langen Jahr befanden, diente der Ls-Kalender. Dieses System erklärte die Linie zwischen Sonne und Mars bei dessen Frühlings-Tagundnachtgleiche als 0°; und dann wurde das Jahr in 360 Grade geteilt, so dass der Nordfrühling von Ls = 0°-90° ging, 90°-180° der nördliche Sommer, 180°-270° der Nordherbst und 270°-360° — oder wieder 0° — der Winter auf der nördlichen Hemisphäre.
Diese einfache Situation wurde kompliziert durch die Exzentrizität der Marsbahn, die nach irdischen Begriffen sehr groß ist; denn im Perihel ist der Mars der Sonne um etwa dreiundvierzig Millionen Kilometer näher als im Aphel und bekommt so etwa fünfundvierzig Prozent mehr Sonnenlicht. Diese Fluktuation macht die südlichen und nördlichen Jahreszeiten sehr ungleich. Das Perihel tritt alljährlich bei Ls = 250° ein, spät im Südfrühling. Darum sind im Süden Frühling und Sommer viel wärmer als im Norden, mit um dreißig Grad höheren Spitzentemperaturen. Im Süden sind allerdings Herbst und Winter kälter, da sie in Nähe des Aphels eintreten — so viel kälter, dass die südliche Polkappe größtenteils aus Kohlendioxid besteht, die nördliche dagegen zumeist aus Wassereis.
Der Marskalender
Jahr 1 (2027 AD)
669 ganze Marstage m 1 Marsjahr
24 Monate =
21 Monate mit 28 Tagen
3 Monate (jeder achte) mit 27 Tagen
Also ist der Süden die Hemisphäre der Extreme, der Norden dagegen gemäßigter. Und die Bahnexzentrizität bewirkt noch einen anderen merklichen Unterschied. Da die Planeten sich um so schneller in ihren Bahnen bewegen, je näher sie der Sonne sind, sind die Jahreszeiten in Nähe des Perihels kürzer als in Nähe des Aphels. Auf dem Mars dauert der Herbst im Norden 143 Tage, der nördliche Frühling aber 194, also 51 Tage länger als der Herbst! Manche meinten, dies alleine mache es wert, sich im Norden anzusiedeln.
Auf jeden Fall befanden sie sich im Norden; und der Sommer war gekommen. Die Tage wurden jeden Tag ein bisschen länger, und die Arbeit ging weiter. Das Gelände um die Basis wurde immer zerwühlter und kreuz und quer von Fahrrinnen durchzogen. Sie hatten eine Zementstraße nach Tschernobyl, und die Basis selbst war jetzt so groß, dass sie sich nach allen Richtungen über den Horizont erstreckte. Das Alchemistenviertel und die Straße nach Tschernobyl im Osten, die Dauersiedlung im Norden, das Lager und die Farm in Westen und das biomedizinische Zentrum im Süden.
Schließlich zogen alle in die fertigen Räume der Dauersiedlung um. Die abendlichen Besprechungen waren dort kürzer und routinierter als früher im Anhängerpark. Es vergingen Tage, in denen Nadia keine Hilferufe bekam. Es gab Leute, die sie nur selten zu sehen bekam. Die Biomediziner in ihren Labors, die Schürfgruppe von Phyllis und sogar Ann. Eines Abends haute Ann sich auf ihr Bett neben dem von Nadia und lud sie zu einer Expedition nach Hebes Chasma ein, etwa 130 Kilometer im Südwesten. Offenbar wollte Ann ihr etwas außerhalb des Basisgebietes zeigen; aber Nadia lehnte ab. »Weißt du, ich habe zuviel zu tun.« Und als sie Anns Enttäuschung sah. »Vielleicht beim nächsten Ausflug.«
Und dann ging es wieder an die Arbeit mit dem Innern der Räume und dem Äußeren eines neuen Flügels. Arkady hatte vorgeschlagen, die Räume in einem Quadrat anzuordnen, und Nadia war damit beschäftigt. Wie Arkady erklärte, wäre es dann möglich, das von dem Quadrat umschlossene Areal zu überdachen. Nadia sagte: »Da werden wir diese Magnesiumbalken gut brauchen können. Wenn wir nur stärkere Glasscheiben machen könnten …«
Sie hatten zwei Seiten des Quadrates fertig gestellt und zwölf Räume ganz hergerichtet, als Ann und ihr Team von Hebes zurückkamen. Alle verbrachten den Abend damit, ihre Videobänder anzuschauen. Diese zeigten, wie die Rover der Expedition über steinige Ebenen rollten. Dann erschien vorn ein Riss, der den ganzen Bildschirm ausfüllte, als ob sie sich dem Ende der Welt näherten. Schließlich zwangen seltsame kleine meterhohe Klippen die Rover zum Halten, und die Bilder machten einen Sprung, als ein Kundschafter ausstieg und mit laufender Helmkamera losging.
Dann kam abrupt das Panoramabild einer Schlucht, die um so viel größer war als die Senken von Ganges Catena, dass es kaum zu fassen war. Die Wände der gegenüberliegenden Seite des Canyons waren an dem entfernten Horizont knapp sichtbar. Man konnte rundum Wände sehen; denn Hebes war ein fast geschlossener Schlund, eine eingetiefte Ellipse von ungefähr zweihundert Kilometern Länge und hundert Breite. Anns Gruppe hatte den Nordrand am späten Nachmittag erreicht, und die östliche Krümmung der Wand war deutlich sichtbar, von Sonnenlicht übergossen. Nach Westen zu war die Wand nur eine niedrige dunkle Markierung. Der Boden der Senke war im allgemeinen eben, mit einer zentralen Vertiefung. Ann sagte: »Wenn man eine Kuppel über dem Chasma schweben lassen könnte, hätte man ein großes geschlossenes Gebiet.«
»Du sprichst von Zauberkuppeln, Ann«, sagte Sax. »Das sind ungefähr zehntausend Quadratkilometer.«
»Nun ja, das gäbe eine schöne große Einfriedung. Und dann könnte man den Rest des Planeten sich selbst überlassen.«
»Das Gewicht einer Kuppel würde die Wände des Canyons zum Einsturz bringen.«
»Darum habe ich gesagt, man müsste sie schweben lassen.«
Sax schüttelte bloß den Kopf.
»Das ist nicht ausgefallener als der Weltraumlift, von dem du sprichst.«
»Ich möchte in einem Haus wohnen — gerade dort, wo du dies Video gemacht hast«, warf Nadia ein. »Was für eine Aussicht!«
Ann sagte ärgerlich: »Warte nur, bis du auf einen der Tharsis-Vulkane kommst. Da wirst du eine Aussicht haben!«
Es gab jetzt dauernd solche kleinen Wortwechsel. Das erinnerte Nadia unangenehm an die letzten Monate auf der Ares. Ein anderes Beispiel: Arkady und seine Crew sendeten Videos von Phobos herunter, wozu er bemerkte: »Der Sidney-Aufprall hat diesen Stein fast in Stücke gebrochen, und er ist chondritisch, fast zwanzig Prozent Wasser. Darum ist eine Menge Wasser bei dem Stoß ausgegast, hat das Bruchsystem gefüllt und ist zu einem ganzen System von Eis-Adern gefroren.« Eine faszinierende Sache, aber sie verursachte nur eine Diskussion zwischen Ann und Phyllis, ihren beiden Spitzengeologinnen, ob dies die richtige Erklärung für das Eis wäre. Phyllis schlug sogar vor, Wasser von Phobos herunterzuschicken, was verrückt war, selbst wenn ihre Bestände klein waren und der Bedarf wuchs. Tschernobyl brauchte eine Menge Wasser, und die Farmer wollten in ihrer Biosphäre einen kleinen Sumpf einrichten, und Nadia wollte in einer der überwölbten Kammern einen Schwimmkomplex installieren, einschließlich eines Planschbeckens, dreier Strudelbäder und einer Sauna. Jeden Abend fragte Nadia, wie es damit voranginge; denn alle waren es satt, sich mit Schwämmen zu waschen und trotzdem staubig zu bleiben und niemals richtig warm zu werden. Sie wollten ein Bad — in ihren alten delphinischen, von Wasser geprägten Gehirnen unterhalb des Großhirns, wo die Wünsche urtümlich und stürmisch waren, zog es sie zurück ins Wasser.
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