Danach war sie verstümmelt. Nadia-mit-den-neun-Fingern, nannte Arkady sie am Telefon. Er schickte ihr Zeilen von Jewtuschenko, die er zur Trauer um den Tod von Louis Armstrong geschrieben hatte: »Mach weiter so, wie du es in der Vergangenheit getan hast, und spiele.«
»Wo hast du das gefunden!« fragte ihn Nadia. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Jewtuschenko liest.«
»Doch, natürlich lese ich ihn. Das ist besser als Mc-Gonagall! Nein, das war in einem Buch über Armstrong. Ich habe deinen Rat befolgt und ihm bei unserer Arbeit gelauscht und kürzlich abends einige Bücher über ihn gelesen.«
»Ich wünschte mir, du könntest hier herunterkommen«, sagte Nadia.
Vlad hatte die chirurgische Arbeit geleistet. Er sagte ihr, es würde alles gut werden. »Es hat dich sauber erwischt. Der Ringfinger ist etwas geschädigt und wird wahrscheinlich so funktionieren wie früher der kleine Finger. Aber Ringfinger werden ohnehin nicht sehr beschäftigt. Die zwei wichtigsten Finger werden so kräftig sein wie eh und je.«
Jedermann kam zu Besuch. Nichtsdestoweniger sprach sie mit Arkady mehr als mit jemandem sonst, wenn sie in der Nacht allein war, in den viereinhalb Stunden, in denen Phobos von West nach Ost über den Himmel zog. Er rief zuerst fast jede Nacht an und später noch öfter.
Recht bald war sie wieder auf und unterwegs, die Hand in einem Gipsverband, der verdächtig leicht war. Sie machte sich auf, um Störungen zu beheben oder Ratschläge zu erteilen, in der Hoffnung, ihren Geist beschäftigt zu halten. Michel Duval kam niemals vorbei, was ihr merkwürdig erschien. Waren Psychologen nicht zu so etwas da? Sie konnte nicht umhin, sich deprimiert zu fühlen. Sie brauchte ihre Hände für ihre Arbeit, sie pflegte mit den Händen zu arbeiten. Der Verband war hinderlich, und sie schnitt den Teil um das Handgelenk herum ab mit einer Schere aus ihrer Werkzeugsammlung. Aber wenn sie draußen war, musste sie die Hand und den Verband in einem Futteral tragen, und es gab nicht viel, das sie ausrichten konnte. Es war wirklich deprimierend.
Es kam der Samstag Abend, und sie saß in dem kürzlich gefüllten Strudelbad, genoss ein Glas schlechten Weins und sah ihren Kameraden zu, die in ihren Badeanzügen planschten und nass wurden. Sie war keineswegs die einzige Verletzte. Sie waren jetzt alle ein wenig angeschlagen nach so vielen Monaten körperlicher Arbeit. Fast jeder hatte Erfrierungsnarben, Flecken schwarzer Haut, die sich schließlich ablöste und neue hinterließ — rosa, hässlich und in der Wärme der Bäder empfindlich. Und etliche andere Personen hatten Gipsverbände an Händen, Fußgelenken, Armen und sogar Beinen. Alles wegen Brüchen oder Zerrungen. Sie konnten sich eigentlich glücklich schätzen, dass es noch keine Toten gegeben hatte.
All diese Körper und keiner für sie. Sie dachte, dass sie sich kannten wie eine Familie. Sie waren füreinander Ärzte, schliefen in den gleichen Räumen, zogen sich in den gleichen Schleusen an, waren gleich gekleidet und badeten zusammen. Eine unauffällige Schar menschlicher Tiere, augenfällig in der trägen Welt, die sie bewohnten, aber eher tröstend als erregend — zumindest die meiste Zeit. Körper mittleren Alters. Nadia war rund wie ein Kürbis, eine plumpe, zähe, muskulöse Frau, vierschrötig und dennoch rundlich. Und allein. Ihr bester Freund in diesen Tagen war nur eine Stimme in ihrem Ohr, ein Gesicht auf dem Bildschirm. Wenn er von Phobos herunterkäme … Nun, schwer zu sagen. Er hatte eine Menge Freundinnen auf der Ares gehabt, und Janet Blyleven war zum Phobos gegangen, nur um bei ihm zu sein …
Die Leute stritten sich wieder, dort in dem seichten Planschbecken. Ann, groß und eckig, bückte sich, um Sax Russell kurz etwas zu sagen. Wie gewöhnlich schien er nicht hinzuhören. Sie würde ihm eines Tages einen Schlag versetzen, wenn er nicht aufpasste. Es war merkwürdig, wie sich die Gruppe wieder veränderte und wie sie sich anders anfühlte. Sie konnte sich nie ihrer sicher sein. Die reale Natur der Gruppe war eine Sache für sich, mit Eigenleben, irgendwie unterschieden von den Charakteren der Individuen, die sie bildeten. Das musste Michels Beschäftigung als ihrer aller Seelenarzt fast unmöglich machen. Er war der ruhigste und unaufdringlichste Psychiater, der ihr je begegnet war. Ohne Zweifel ein Gewinn in dieser Schar von Leuten, die die Psychologie ablehnten. Aber sie fand es immer noch merkwürdig, dass er nach dem Unfall nicht gekommen war, um sie zu besuchen.
Eines Abends verließ sie die Speiseräume und ging hinunter zu dem Tunnel, den sie von den gewölbten Kammern zum Farmkomplex gruben. Dort am Ende des Tunnels waren Maya und Frank, die sich in boshaften Tönen stritten, so dass nicht ihre Gedanken, sondern ihre Gefühle durch den Tunnel hallten. Franks Gesicht war von Wut verzerrt, und Maya wendete sich weinend von ihm ab. Sie kehrte ihm den Rücken zu und schrie: »Ich bin nie so gewesen!« Dann rannte sie blindlings auf Nadia zu. Ihr Mund war mürrisch zusammengezogen, und Franks Gesicht eine Grimasse des Schmerzes.
Nadia drehte sich schockiert um und ging zurück in die Wohnräume. Sie stieg die Magnesiumtreppe empor zum Wohnzimmer im Sektor Zwei und stellte den Fernseher an, um sich ein vierundzwanzigstündiges Nachrichtenprogramm von der Erde einzuschalten, was sie nur sehr selten tat. Nach einer Weile drehte sie den Ton herunter und blickte auf die Backsteinmuster in dem Gewölbe über sich. Maya kam herein und fing an, ihr die Dinge zu erklären: Es gab nichts zwischen ihr und Frank. Das existierte nur in Franks Geist. Er wollte es einfach nicht aufgeben, obwohl es sinnlos war. Sie begehrte nur John; und es war ihr Fehler, dass John und Frank sich jetzt so schlecht vertrugen. Das lag an Franks unvernünftigem Verlangen. Es war nicht ihr Fehler, aber sie fühlte sich so schuldig, weil die beiden Männer früher so enge Freunde gewesen waren, fast wie Brüder.
Und Nadia hörte mit mühsam geheuchelter Geduld zu und sagte »Da da« und dergleichen, bis Maya heulend flach auf dem Rücken am Boden lag und Nadia, die auf der Kante eines Stuhles saß, sie anstarrte und sich fragte, wie viel davon wohl zuträfe. Und um was sich der Streit in Wirklichkeit gedreht hätte. Und ob sie eine schlechte Freundin wäre, wenn sie der Story ihrer alten Gefährtin so gänzlich misstraute. Aber irgendwie machte das Ganze den Eindruck, als ob Maya ihre Spuren verwischte und eine neue Manipulation ausübte. Es war doch so gewesen, dass diese zwei verzerrten Gesichter, die sie im Tunnel gesehen hatte, der klarstmögliche Beweis für einen Streit zwischen intimsten Personen gewesen waren. Also war Mayas Erklärung fast sicher eine Lüge. Nadia sagte etwas zu ihr und ging zu Bett. Sie dachte: Du hast mir schon zuviel von meiner Zeit und Energie und Konzentration mit diesen Spielchen geraubt. Du hast mich damit einen Finger gekostet, du Biest!
Es war ein neues Jahr, das sich dem Ende des langen nördlichen Sommers zuneigte; und sie hatten immer noch keine zufrieden stellende Wasserversorgung. Darum schlug Ann vor, eine Expedition zur Polkappe zu unternehmen und eine Roboter-Destillieranlage einzurichten, sowie längs des Weges eine Route anzulegen, damit Roboter einem automatischen Piloten folgen könnten. Sie sagte zu Nadia: »Komm mit uns! Du hast noch nichts auf dem Planeten gesehen außer dem Streifen zwischen hier und Tschernobyl, und das ist nichts. Du hast Hebes und Ganges versäumt und machst hier nichts Neues. Wirklich, Nadia, ich kann nicht glauben, was für ein Arbeitstier du gewesen bist. Ich meine, wozu bist du überhaupt auf den Mars gekommen?«
»Warum?«
»Ja, warum? Ich meine, es gibt hier zwei Arten von Aktivitäten. Da ist die Erforschung des Mars und dann die Sorge für das Leben dieser Erforschung. Und hier bist du völlig in der Lebensversorgung aufgegangen, ohne dem Grund, weshalb wir in erster Linie hergekommen sind, die geringste Aufmerksamkeit zu widmen!«
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