Er und Maya nahmen den Zug von Burroughs zurück hinauf zum Pavonis Mons. Während der ganzen Fahrt saß sie am Fenster und sah zu, wie Landschaft aufstieg und sich senkte und sich im Flachland auf fünf Kilometer verengte und dann beim Anstieg sich auf fünfzig oder hundert Kilometer ausweitete. Eine so große Beule war Tharsis an dem Planeten. Etwas war darin ausgebrochen. Wie in der gegenwärtigen Lage. Ja, sie waren auf dem Tharsisbuckel der Geschichte des Mars stecken geblieben, wobei die großen Vulkane vor dem Ausbruch standen.
Und dann war da einer, Pavonis Mons, ein riesiger Traumberg, als ob die Welt ein Druck von Hokusai wäre. Frank hatte Mühe zu sprechen. Er vermied es, das Fernsehen auf der Vorderseite des Wagens anzuschauen. Nachrichten leuchteten im ganzen Zug sowieso ständig auf, um wieder zu erlöschen — in Stücken mitgehörter Gespräche oder dem Aussehen von Gesichtern der Leute. Es war nie nötig, das Video zu verfolgen, um die wirklich wichtigen Meldungen herauszufinden.
Der Zug bewegte sich durch einen Wald von Acheronkiefern, kleine zähe Gewächse mit einer Rinde wie Schmiedeeisen und zylindrischen Nadelbüscheln. Aber die Nadeln waren alle gelb und hingen herab. Er hatte davon gehört. Es gab Probleme mit dem Boden, zu viel Salz oder zu wenig Stickstoff. Sie waren nicht ganz sicher. Gestalten mit Helmen standen um einen herum und pflückten Proben der kranken Nadeln. »Das bin ich«, sagte Frank leise zu Maya, denn sie schlief. »Mit Nadeln herumspielen, wenn die Wurzeln krank sind.«
In den Sheffieldbüros nahm er Besprechungen auf mit den neuen Verwaltern des Aufzugs und fing zugleich eine neuer Runde simultaner Konferenzen mit Washington an. Es stellte sich heraus, dass Phyllis immer noch die Leitung des Aufzugs hatte, nachdem sie Subarashii bei der feindlichen Übernahme unterstützt hatte.
Dann hörte er, dass Arkady sich in Nicosia befand, gleich unterhalb des Abhangs von Pavonis, und dass er und seine Gefolgsleute Nicosia zu einer freien Stadt wie New Houston erklärt hatten. Nicosia war ein großer Absprungpunkt für die Verschwundenen geworden. Man konnte nach Nicosia hineinschlüpfen und nie wieder auftauchen. Das war Hunderte Male vorgekommen, so klar, dass es ziemlich deutlich war, es müsste dahinter ein System von Kontakt und Übermittlung stecken, eine Art Untergrundbahn, in die noch kein verdeckter Ermittler hatte eindringen oder aus ihr zurückkommen können. Als Frank das hörte, sagte er zu Maya: »Lass uns hinuntergehen und mit ihm reden. Ich möchte ihm wirklich in Person gegenüberstehen.«
Maya sagte finster: »Das wird nichts nützen.« Aber Nadia war vermutlich auch dort, und so kam sie mit.
Den ganzen Abhang von Tharsis hinunter fuhren sie schweigend und sahen den überfrorenen Fels vorbeifliegen. In Nicosia öffnete sich der Bahnhof für ihren Zug, als ob eine Verweigerung für sie überhaupt nicht fraglich gewesen wäre. Aber Arkady und Nadia waren nicht in der kleinen Schar, die sie begrüßte. Statt dessen war es Alexander Zhalin. Im Büro des Stadtverwalters riefen sie Arkady über eine Videoverbindung an. Nach dem Sonnenlicht hinter ihm zu urteilen, befand er sich viele Kilometer weit im Osten. Und Nadia, hieß es, wäre überhaupt nie in Nicosia gewesen.
Arkady sah so aus wie immer — freundlich und entspannt. »Das ist Wahnsinn«, sagte Frank zu ihm, wütend, dass er ihn nicht in Person erreicht hatte. »Du kannst nicht hoffen, Erfolg zu haben.«
»O doch«, sagte Arkady. »Wir können.« Sein üppiger roter und weißer Bart war ein deutliches Revolutionsabzeichen, als wäre er der junge Fidel Castro und im Begriff, Havanna einzunehmen. »Natürlich wäre es mit eurer Hilfe leichter, Frank. Denk darüber nach!«
Ehe Frank mehr sagen konnte, erweckte jemand außerhalb des Bildschirms Arkadys Aufmerksamkeit. Eine geflüsterte Konversation auf russisch, und dann sah Arkady ihn wieder an. Er sagte: »Entschuldigung, ich muss mich um etwas kümmern. Ich komme so schnell wie möglich wieder zu dir zurück.«
»Geh nicht!« brüllte Frank, aber die Verbindung war schon getrennt. »Gottverdammt!«
Nadia kam in die Leitung. Sie war in Burroughs gewesen, war aber in die Verbindung eingeschaltet gewesen, wie es schien. Im Gegensatz zu Arkady war sie streng, brüsk und mürrisch. »Du kannst nicht das unterstützen, was er tut!« rief Frank.
»Nein«, sagte Nadia grimmig. »Wir sprechen nicht. Wir haben noch diesen Telefonkontakt, daher weiß ich, wo du warst; aber wir benutzen ihn nicht mehr direkt. Keinen Sinn.«
»Du kannst ihn nicht beeinflussen?« fragte Maya.
»Nein.«
Frank sah, dass es Maya schwer fiel, das zu glauben, und er musste fast darüber lachen. Keinen Mann beeinflussen und manipulieren? Nadia hatte doch damit nie Probleme gehabt.
In dieser Nacht blieben sie in einem Wohnheim nahe dem Bahnhof. Nach dem Abendessen ging Maya wieder zum Büro des Stadtverwalters, um mit Alexander, Dmitri und Elena zu sprechen. Frank war nicht interessiert. Es war Zeitvergeudung. Er ging ruhelos um die alte Stadt herum, durch Gassen, die zur Kuppelwand führten, und erinnerte sich an jene Nacht, die so lange zurücklag. Tatsächlich nur neun Jahre, obwohl es ihm wie hundert vorkam. Nicosia war in diesen Tagen nicht sehr ansehnlich. Der Park am westlichen Ende bot noch einen guten Anblick im ganzen, aber es war so finster, dass er kaum etwas erkennen konnte.
In dem Sykomorenhain, der jetzt voll ausgewachsen war, kam er an einem kleinen Mann vorbei, der in umgekehrter Richtung ging. Der rief: »Chalmers!«
Frank wandte sich um. Der Mann hatte ein schmales Gesicht, lange verfilzte Haarfransen und dunkle Haut. Aber als er ihn erblickte, erschauerte er und platzte heraus: »Ja?«
Der Mann schaute ihn an und sagte: »Du kennst mich wohl nicht?«
»Nein. Wer bist du?«
Das Grinsen des Mannes war schief, als ob sein Gesicht durch ein gebrochenes Kiefergelenk gehandicapt wäre. Bei der Straßenbeleuchtung sah es undeutlich und entstellt aus.
»Wer bist du?« fragte Frank wieder.
Der Mann hob den Finger. »Als wir uns das letzte Mal begegneten, hast du die Stadt kaputt gemacht. Heute Nacht bin ich an der Reihe. Ha!« Er ging lachend davon. Jedes scharfe »Ha!« war höher als das vorige.
Als er kurz darauf ins Stadtbüro kam, ergriff Maya ihn am Arm. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Du solltest nicht allein in dieser Stadt umhergehen.«
»Halt den Mund!« Er ging ans Telefon und rief die Versorgungszentrale. Alles war normal. Er rief die UNOMA-Polizei an und sagte den Leuten, sie sollten eine bewaffnete Wache an der Zentrale und am Bahnhof in Stellung bringen. Er wiederholte die Anordnung noch für jemanden, der höhere Befugnisse hatte; aber es schien, als ob er bis zu dem neuen Manager gehen müsste, um eine Bestätigung zu erhalten, als der Schirm leer wurde. Unter den Füßen bebte es, und alle Alarmglocken der Stadt schrillten zugleich los.
Dann gab es einen heftigen Stoß. Alle Türen schlossen sich zischend. Das Gebäude schloss sich hermetisch, was bedeutete, dass der Druck draußen jäh gefallen war. Frank und Maya rannten ans Fenster und schauten hinaus. Die Kuppel über Nicosia war heruntergekommen. An manchen Stellen hatte sie sich wie eine Kunststoff-Folie über die höchsten Dächer gebreitet, anderswo blies der Wind sie fort. Leute unten auf den Straßen klopften an Türen, rannten, brachen zusammen und kauerten sich hin wie die Leichen in Pompeji. Frank wandte sich rasch ab. Seine Zähne klapperten vor grimmem Schmerz.
Offenbar hatte sich das Gebäude erfolgreich abgedichtet. Unter all dem Lärm konnte Frank das Summen eines Generators hören oder fühlen. Die Videoschirme waren leer, so dass es schwer war, dem Blick aus dem Fenster zu glauben. Mayas Gesicht war gerötet, aber sie verhielt sich ruhig. »Die Kuppel ist heruntergekommen!«
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