Bei diesen Gesprächen bestätigten seine Kollegen, besonders Claire und Berkina, was ihm bei seinen Spaziergängen klar geworden war, nämlich daß Burroughs in gewisser Weise de facto die Hauptstadt des Mars wurde, indem die Zentralen aller größten Transnationalen dort ihren Sitz hatten. Die Transnationalen waren derzeit die effektiven Herren auf dem Mars. Sie hatten es der Elfergruppe und den anderen reichen Industrienationen ermöglicht, den Krieg von 2061 zu gewinnen oder mindestens zu überleben; und jetzt waren sie alle in einer einzigen Machtstruktur verflochten, so daß es nicht klar war, wer auf der Erde die Entscheidungen traf, die Länder oder die Suprakorporationen. Aber auf dem Mars war das ganz klar. UNOMA war 2061 zusammengebrochen wie eine Kuppelstadt, und das Amt, welches an ihre Stelle getreten war, die Übergangsbehörde der UN, war eine Verwaltungsgruppe, die mit leitenden Persönlichkeiten der Transnationalen besetzt war auf Grund von Erlassen, die transnationale Sicherheitskräfte erzwungen hatten. »Die UN hat eigentlich nichts damit zu tun«, sagte Berkina. »Damit ist der Name nur eine Tarnung.«
»Jeder nennt sie sowieso nur die Übergangsbehörde«, erklärte Claire.
»Sie können sehen, wer wer ist«, sagte Berkina. Und wirklich sah man in Burroughs häufig uniformierte transnationale Sicherheitspolizei. Sie trug rostfarbene Arbeitspullover mit Armbinden in verschiedenen Farben. Nicht gerade bedenklich, aber sie war da.
»Aber warum?« fragte Sax. »Wovor haben sie Angst?«
Claire sagte lachend: »Sie befürchten, daß Bogdanovisten aus den Bergen herauskommen. Das ist lächerlich.«
Sax zog die Augenbrauen hoch und sagte nichts dazu. Er war neugierig, aber das war ein gefährliches Thema. Lieber bloß zuhören, wenn es von selbst zur Sprache kam. Wenn er aber durch Burroughs spazierte, beobachtete er danach die Leute schärfer und achtete auch bei der Sicherheitspolizei, die unterwegs war, darauf, wozu sie nach Ausweis ihrer Armbinden jeweils gehörte. Consolidated, Amexx, Oroco … Er fand es seltsam, daß sie keine einheitliche Truppe gebildet hatten. Möglicherweise waren die Transnationalen immer noch ebensosehr Rivalen wie Partner. Das würde natürlich zu konkurrierenden Sicherheitssystemen führen. Vielleicht würde das auch die Flut von Identifikationssystemen erklären, welche es Desmond ermöglichte, seine Personae in ein System einzuschleusen und dann anderswohin schleichen zu lassen. Die Schweiz war offenbar geneigt, einige Leute zu decken, die aus dem Nichts in ihr System kamen, wie Saxens Erfahrung mit seiner eigenen Person bewies. Und ohne Zweifel verhielten sich andere Länder und Transnationale genauso.
Also erzeugte bei der jetzigen politischen Lage die Informationstechnik nicht Totalisierung, sondern Balkanisierung. Arkady hatte eine solche Entwicklung vorhergesagt, aber Sax hatte eine solche Möglichkeit für irrational gehalten. Jetzt mußte er einräumen, daß es so weit gekommen war. Die Computernetze konnten mit den Ereignissen nicht Schritt halten, weil sie untereinander im Wettstreit lagen. Und so war es auch mit der Polizei in den Straßen, die nach Leuten wie Sax Ausschau hielt.
Aber er war Stephen Lindholm. Er hatte Lindholms Zimmer in der Hunt Mesa und seine Routinen und Gewohnheiten und seine Vergangenheit. Sein kleines Studio-Apartment sah ganz anders aus als etwas, worin Sax hätte wohnen mögen. Die Kleidung war im Schrank, es gab keine Experimente im Kühlschrank oder auf dem Bett. Es waren nicht einmal Drucke an den Wänden von Escher oder Hundertwasser, nur einige unsignierte Skizzen von Spencer — eine Indiskretion, die gewiß nicht zu entdecken war. Er war in seiner neuen Identität sicher. Und selbst wenn man ihn entdecken sollte, bezweifelte er, daß die Ergebnisse allzu verheerend sein würden. Er könnte sogar in der Lage sein, zu etwas wie seiner früheren Macht zurückzufinden. Er war immer unpolitisch gewesen, nur an Terraformung interessiert. Und er war wegen des Wahnsinns von ’61 untergetaucht, weil es so aussah, als wäre es gefährlich, das nicht zu tun. Ohne Zweifel würden einige der jetzigen Transnationalen es so sehen und versuchen, ihn anzuwerben.
Aber all das war hypothetisch. In Wirklichkeit konnte er sich im Leben von Lindholm etablieren.
Als er das tat, entdeckte er, daß ihm seine Arbeit viel Freude machte. In den alten Tagen als Chef des ganzen Terraformungsprojekts war es unmöglich gewesen, in der Verwaltung nicht steckenzubleiben oder sich über sämtliche Aufgaben zu verzetteln in dem Bemühen, von allem genug zu wissen, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Natürlich hatte das zu mangelnder Tiefe in jeder Einzeldisziplin geführt, was zu einem Verlust an Einsicht führte. Aber jetzt war seine ganze Aufmerksamkeit darauf konzentriert, für das einfache Ökosystem, das in den glazialen Regionen befürwortet worden war, neue Pflanzen zu entwickeln. Einige Wochen lang arbeitete er an der Schaffung einer neuen Flechte, welche die Grenzen der neuen Bioregionen erweitern sollte und auf einem Chasmoendolithen aus dem Wright Valley in der Antarktis beruhte. Die ursprüngliche Flechte hatte in den Ritzen des antarktischen Gesteins gelebt; und hier wollte Sax dasselbe machen. Aber er versuchte den Algenteil der Flechte durch eine schnellere Alge zu ersetzen, damit der neue Symbiont schneller wachsen sollte als sein Vorbild, das ungemein langsam war. Gleichzeitig versuchte er, dem Pilzteil der Flechte einige preatophytische Gene aus salzverträglichen Pflanzen wie Tamariske und Gurkenkraut einzufügen. Diese konnten bei einem Salzgehalt dreimal so hoch wie Meerwasser leben, und der Mechanismus, der etwas mit der Durchlässigkeit von Zellwänden zu tun hatte, war irgendwie übertragbar. Wenn ihm das gelänge, würde das Ergebnis eine sehr robuste und schnell wachsende neue Salzflechte sein. Es war sehr ermutigend, den Fortschritt zu sehen, der auf diesem Gebiet erzielt worden war seit ihren ersten Versuchen seinerzeit in Underhill, einen Organismus zu schaffen, der auf der Oberfläche überleben würde. Natürlich war die Oberfläche damals schwieriger gewesen. Aber sie hatten auch große Fortschritte in Genetik und der Fülle ihrer Methoden gemacht.
Ein sehr hartnäckiges Problem war, die Pflanzen der geringen Häufigkeit von Stickstoff auf dem Mars anzupassen. Die meisten großen Konzentrationen von Nitriten wurden nach ihrer Entdeckung freigesetzt und als Stickstoff in die Atmosphäre entlassen. Diesen Prozeß hatte Sax in den 2040er Jahren initiiert und allgemeine Zustimmung gefunden, da die Atmosphäre dringend Stickstoff benötigte. Aber mit dem Boden war es genau so, und der kam zu kurz, wenn das meiste in die Luft geschickt wurde. Damit war das Pflanzenleben benachteiligt. Mit diesem Problem war noch nie eine irdische Pflanze konfrontiert gewesen, daher gab es keine erkennbaren Merkmale, die man in die Gene der Marsflora einfügen könnte.
Das Stickstoffproblem war ein immer wieder auftauchendes Thema in ihren nachmittäglichen Zusammenkünften im Cafe Lowen auf dem Mesaplateau. »Stickstoff ist so wertvoll«, sagte Berkina, »daß er im Untergrund als Tauschmittel dient.« Sax nickte unbehaglich zu dieser Fehlinformation.
Die Cafegruppe drückte ihre Verehrung für die Bedeutung von Stickstoff dadurch aus, daß man N2O aus kleinen Kanistern einatmete, die am Tisch die Runde machten. Man behauptete mit zweifelhafter Richtigkeit, aber in bester Stimmung, daß es der Terraformungsbemühung helfen würde, wenn man dieses Gas ausatmete. Als der Kanister zum ersten Male an Sax ging, beäugte er ihn mißtrauisch. Er hatte bemerkt, daß man diese Kanister in Toiletten kaufen konnte. Es gab jetzt in jeder Herrentoilette eine ganze Apotheke, Automaten an den Wänden, die Kanister mit Stickoxidul ausgaben sowie Omegendorph, Pandorph und andere mit Drogen versetzte Gase. Offenbar war Einatmen derzeit die Mode beim Drogenkonsum. Das interessierte ihn zwar nicht; aber jetzt nahm er den Kanister von Jessica, die sich an seine Schulter lehnte. Dies war ein Gebiet, wo sich die Gewohnheiten von Stephen und Sax offenbar unterschieden. Also atmete er aus und drückte dann die kleine Gesichtsmaske an Mund und Nase, wobei er unter dem Material Stephens glattes Gesicht fühlte.
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