Und zweifellos bot die bogenförmige Gestalt der Region mit ihrem Archipel aus kleinen Mesas auch einen eindrucksvollen Anblick. Als er auf den breiten begrasten Boulevards herumging, schienen die neun Mesas gleichmäßig verteilt zu sein. Und jede Mesa sah anders aus. Ihre rauhen Felswände unterschieden sich durch charakteristische Vorsprünge, Pfeiler, glatte Wände, Überhänge und Spalten, und jetzt auch durch die horizontalen Bänder aus farbigen spiegelnden Fenstern und die Gebäude und Parks, die auf den flachen Plateaus jeder Mesa saßen. Von jedem Punkt der Straße aus konnte man immer einige Mesas sehen, verteilt wie prächtige Kathedralen; und das erfreute das Auge gewiß. Und wenn man dann einen Aufzug zu einem Gipfel der Mesas nahm, die alle etwa hundert Meter höher lagen als der Boden der Stadt, hatte man eine Aussicht über die Dächer mehrerer verschiedener Distrikte und eine andere Perspektive für die anderen Mesas, und hinter ihnen auf das Land des Mars, weil man sich auf dem Boden einer schüsselartigen Senke befand. Über die flache Ebene von Isidis im Norden und den dunklen Anstieg von Syrtis im Westen; und im Süden konnte man die ferne Erhebung der Großen Böschung selbst sehen, die wie ein Himalaya am Horizont stand.
Natürlich war es eine offene Frage, ob eine hübsche Aussicht bei der Gründung einer Stadt eine Rolle spielte; aber es gab Historiker, die versicherten, daß viele alte griechische Städte grundsätzlich wegen ihrer Aussicht angelegt worden wären, trotz anderen Unbequemlichkeiten. Also war das mindestens ein möglicher Faktor. Und auf jeden Fall war Burroughs jetzt eine stolze kleine Metropole von etwa hundertfünfzigtausend Einwohnern und die größte Stadt auf dem Mars. Und sie wuchs immer noch. Gegen Ende seines Nachmittagsspaziergangs fuhr Sax mit einem der großen äußeren Aufzüge auf Branch Mesa, die nördlich vom Zentralpark lag, und konnte von diesem Plateau aus sehen, daß die nördlichen Ausläufer der Stadt die ganze Strecke bis zur Kuppelbasis mit Bauplätzen übersät waren. Es liefen sogar einige Arbeiten um einige der entfernten Mesas außerhalb der Kuppel. Offenbar war eine kritische Masse im Sinne der Gruppenpsychologie erreicht worden, eine Art Herdeninstinkt, der diese Stadt zur Hauptstadt gemacht hatte, zum sozialen Magneten und dem Herzen der Aktivität. Gruppendynamik war bestenfalls komplex und sogar (er schnitt eine Grimasse) unerklärlich.
Das war wie immer ungünstig, weil Biotique Burroughs wirklich eine sehr dynamische Gruppe bildete. Und in den folgenden Tagen stellte Sax fest, daß es nicht einfach war, seinen Platz in der Fülle von Wissenschaftlern zu bestimmen, die an dem Projekt arbeiteten. Er hatte die Geschicklichkeit verloren, in einer neuen Gruppe seinen Weg zu finden, sofern er sie je gehabt hatte. Die Formel, um die Zahl möglicher Beziehungen in einer Gruppe zu beherrschen, war n(n-l)/2, wo n die Anzahl der Individuen in der Gruppe ist, so daß für die 1000 Menschen in Biotique Burroughs sich 499500 mögliche Beziehungen ergaben. Dies schien für Sax jenseits jeder Möglichkeit zu liegen, es zu begreifen. Selbst die 4950 möglichen Beziehungen in einer Gruppe von 100, die hypothetische ›Planungsgrenze‹ für die Größe menschlicher Gruppen, erschien plump. In Underhill war es wirklich so gewesen, wo sie eine Gelegenheit gehabt hatten, das zu prüfen.
Es war also wichtig, in Biotique eine kleinere Gruppe zu finden, und Sax machte sich so ans Werk. Es war gewiß sinnvoll, sich zuerst auf sein Labor zu konzentrieren. Er war als Biophysiker dort eingetreten, was riskant war, ihn aber dorthin brachte, wo er in der Firma sein wollte. Und er hoffte, daß er sich würde behaupten können. Falls nicht, könnte er erklären, daß er von der Physik zur Biophysik gekommen wäre, was auch stimmte. Sein Boss war eine Japanerin namens Ciaire, dem Aussehen nach mittleren Alters, eine sehr kongeniale Frau, die ihr Labor vorzüglich leitete. Bei seiner Ankunft setzte sie ihn an die Arbeit mit dem Team, das Pflanzen der zweiten und dritten Generation für die vergletscherten Gebiete der nördlichen Hemisphäre entwickelte. Diese neu hydrierten Milieus boten enorme neue Möglichkeiten für botanische Planung, da die Konstrukteure nicht mehr alle Spezies auf Xerophyten der Wüste gründen mußten. Sax hatte das vom allerersten Moment an kommen sehen, als er die Flut sah, die von Ius Chasma nach Melas hinunterdonnerte im Jahr 2061. Und jetzt, vierzig Jahre später, konnte er wirklich etwas dafür tun.
Also stieg er sehr vergnügt in die Arbeit ein. Zuerst mußte er sich aufs laufende bringen über das, was schon dort in den Gletschergebieten ausgesetzt worden war. Er las gierig auf seine übliche Art, sah Videobänder an und erfuhr, daß bei der immer noch so dünnen und kalten Atmosphäre das Ganze auf der Oberfläche freigesetzte Eis sublimierte, bis seine exponierten Flächen zu einem feinen Gitterwerk zerfressen waren. Das bedeutete, es gab Milliarden kleiner und großer Löcher, in denen Leben wachsen konnte, direkt auf dem Eis. Und so gehörten zu den ersten Formen, die weit verbreitet wurden, Spielarten von Schnee- und Eisalgen. Diese Algen waren verstärkt worden durch preatophytische Merkmale; denn selbst wenn Eis zunächst rein war, wurde es von Salz verkrustet durch den allgegenwärtigen vom Wind verwehten Grus. Die genetisch modifizierten salzverträglichen Algen hatten sich sehr gut bewährt. Sie wuchsen in den gelöcherten Oberflächen der Gletscher und manchmal direkt in das Eis hinein. Und weil sie dunkler waren als das Eis, rötlich oder schwarz oder grün, hatte das Eis unter ihnen die Neigung zu schmelzen, besonders an Sommertagen, wenn die Temperaturen deutlich über dem Gefrierpunkt lagen. So hatten tagsüber kleine Rinnsale begonnen, von den Gletschern und entlang ihrer Ränder herunterzuströmen. Diese feuchten moränenartigen Gebiete ähnelten einigen polaren und alpinen Gegenden der Erde. Bakterien und größere Pflanzen aus diesen terrestrischen Landschaften, genetisch verändert, um die penetrante Salzigkeit zu vertragen, waren zuerst vor einigen M-Jahren von Biotique ausgesät worden; und die Pflanzen gediehen zum größten Teil so wie früher die Algen.
Jetzt versuchten die Planungsgruppen auf diesen frühen Erfolgen aufzubauen und eine breitere Menge größerer Pflanzen einzuführen, sowie einige Insekten, die so gezüchtet waren, daß sie den hohen Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre vertrugen. Biotique besaß ein umfangreiches Material an Musterpflanzen zur Entnahme von Chromosomen und außerdem 17 M-Jahre an Daten über Feldversuche. Damit hatte Sax eine Menge zu tun, um aufs laufende zu kommen. In seinen ersten Wochen im Labor und in dem Arboretum der Firma auf dem Hunt-Plateau konzentrierte er sich ganz auf die neue Pflanzenart und war zufrieden, sich seinen Weg in das größere Bild zu gegebener Zeit zu bahnen.
Inzwischen gab es, wenn er nicht an seinem Pult mit Lesen beschäftigt war oder durch die Mikroskope blickte oder in die diversen Gefäße mit Marsgewächsen schaute oder oben im Arboretum war, für Stephen Lindholm noch genug tägliche Arbeit, um ihn beschäftigt zu halten. Im Labor war es nicht allzusehr anders, als wenn er Sax Russell wäre. Aber am Ende der Arbeitstage konnte er sich oft angestrengt bemühen und mit der Gruppe zusammenkommen, die nach oben in eines der Cafes auf dem Plateau ging, um etwas zu trinken und über ihr Tagewerk und auch alles mögliche andere zu plaudern.
Selbst dort fand er es überraschend leicht, Lindholm zu ›sein‹, der, wie er fand, eine Menge Fragen stellte und oft lachte. Dessen Mund das Lachen irgendwie erleichterte.
Fragen der anderen — gewöhnlich von Claire und einer englischen Immigrantin namens Jessica und einem Kenyaner namens Berkina — hatten sehr selten etwas zu tun mit Lindholms Vergangenheit auf der Erde. Wenn es dazu kam, fand Sax es leicht, eine minimale Antwort zu geben. Desmond hatte Lindholm eine Vergangenheit gegeben in Saxens Heimatstadt Boulder in Colorado, was sehr geschickt war. Und dann konnte er die Frage auf den Fragenden zurückwenden in einer Technik, die er oft bei Michel beobachtet hatte. Die Leute waren so glücklich zu plaudern. Und Sax selbst war nie ein besonders Stiller gewesen wie Simon. Er hatte bei Gesprächen immer mit hohem Einsatz gespielt; und wenn er später gelegentlich etwas beigesteuert hatte, war es deshalb, weil er nur interessiert war, wenn die Gewinnchancen ein gewisses Mindestniveau erreichten. Belangloses Geplauder war für gewöhnlich Zeitverschwendung. Aber es ließ immerhin Zeit vergehen, die sonst unangenehm leer gewesen wäre. Es schien auch Gefühle von Einsamkeit zu mildern. Und seine neuen Kollegen führten ohnehin meist recht interessante Fachgespräche. Und so leistete er seinen Beitrag und erzählte ihnen von seinen Spaziergängen um Burroughs herum und stellte ihnen viele Fragen über das, was er gesehen hatte, und nach ihrer Vergangenheit und nach Biotique und der Lage auf dem Mars und so weiter. Das war für Lindholm ebenso sinnvoll wie für Sax.
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