flachen weißen Flächen großer geschmolzener und überfrorener Seen. Direkt unter ihr lagen die ersten niedrigen Hügel der Großen Böschung, gefleckt mit stachligen Flächen von Acheron-Kakteen, die sich wie Korallenriffe über den Fels ausbreiteten. Abgestufte Wiesen von schwarzgrünem Tundramoos folgten dem Lauf kleiner gefrorener Flüsse, die von der Böschung herunterströmten. Von weitem sahen diese Flüsse aus wie Kieselalgen, die in Ritzen des roten Gesteins gestopft waren.
Und dann verlief in mittlerer Entfernung der neue, Wüste vom Eis trennende Deich wie eine kahle braune Narbe, die zwei getrennte Realitäten zusammennähte.
Nadia verbrachte lange Zeit damit, ihn im Feldstecher zu mustern. Sein südliches Ende war eine Halde aus Regolith, die den Ausläufer des Kraters Wg hinauflief und direkt am Kraterrand endete, der etwa einen halben Kilometer über dem Normalnull lag, gut über dem erwarteten Meeresniveau. Der Deich verlief von Wg nach Nordwesten. Von ihrem hohen Aussichtsplatz hoch auf der Böschung konnte Nadia etwa vierzig Kilometer davon überschauen, ehe er am Horizont verschwand, genau westlich vom Krater Xh. Dieser war fast bis zum Rand von Eis umgeben, so daß sein rundes Innere einem merkwürdigen roten Senkloch glich. Überall anderswo hatte sich das Eis gegen den Deich in die Höhe gepreßt, soweit Nadia sehen konnte. Die Wüstenseite des Deichs schien mindestens zweihundert Meter hoch zu sein, obwohl das schwer zu beurteilen war, da sich unterhalb des Deichs ein breiter Graben befand. Auf der anderen Seite staute sich das Eis ziemlich hoch, bis zur Hälfte oder noch mehr.
Der Deich war an der Krone etwa dreihundert Meter breit. Soviel verlagerter Regolith — Nadia stieß einen respektvollen Pfiff aus — stellte mehrere Jahre der Arbeit dar durch ein sehr großes Team von robotischen Schürfkübelbaggern und Kanalgrabmaschinen. Aber lockerer Regolith! Ihr schien, daß der Deich, so gewaltig er für jeden menschlichen Maßstab war, doch nicht viel bedeutete, um einen Ozean aus Eis zusammenzuhalten. Und Eis war noch der leichtere Teil bei der Sache. Wenn es schmolz, würden die Wellen und Strömungen Regolith wie Staub wegreißen. Und das Eis schmolz auch schon. Es hieß, daß immense Massen davon überall unter der schmutzigweißen Oberfläche lägen und auch direkt am Deich, wo sie hineinsickerten.
»Wird man nicht diese ganze Aufschüttung durch Beton ersetzen müssen?« fragte sie Sax, der sie begleitet hatte und durch seinen eigenen Feldstecher mit hinschaute.
»Verkleiden«, sagte er. Nadia erwartete eine schlechte Nachricht, aber er fuhr fort: »Man muß den Deich mit einer Diamantschicht verkleiden. Die würde ziemlich lange halten. Vielleicht ein paar Millionen Jahre.«
»Hmm«, machte sie. Wahrscheinlich war das richtig. Vielleicht könnte von unten etwas einsickern. Aber auf jeden Fall würde man, wie auch immer die besonderen Umstände sein mochten, das System ständig warten müssen, und ohne Fehlerspielraum, da Burroughs nur fünfzig Kilometer südlich vom Deich lag und etwa hundertfünfzig Meter tiefer. Ein merkwürdiger Platz, um zu verrecken. Nadia richtete ihr Glas in Richtung zur Stadt, aber die lag gerade hinter dem Horizont etwa siebzig Kilometer im Nordwesten. Natürlich konnten Deiche wirksam sein. Die in Holland hatten jahrhundertelang gehalten und Millionen Menschen und Hunderte von Quadratkilometern geschützt — bis zu der jüngsten Überschwemmung. Und auch jetzt würden diese großen Deiche halten und zuerst durch flankierende Fluten durch Deutschland und Belgien gefährdet werden. Deiche konnten gewiß wirksam sein. Aber es war trotzdem ein seltsames Schicksal.
Nadia richtete ihren Feldstecher auf das zerrissene Gestein der Großen Böschung. Was aus der Ferne wie Blumen aussah, waren in Wirklichkeit massive Haufen von Korallenkaktus. Ein Strom sah aus wie eine Treppe aus violetten Polstern. Der rohe rote Stein ließ die Landschaft sehr eindrucksvoll, surreal und schön erscheinen … Nadia wurde von einem jähen Ausbruch von Angst davor betroffen, daß etwas mißlingen und sie plötzlich getötet werden könnte, daran gehindert, noch mehr von dieser Welt und ihrer Entwicklung mitzuerleben. Das könnte passieren. Jeden Augenblick konnte ein Geschoß aus dem violetten Himmel herausstoßen. Dies Refugium war ein Übungsziel, wenn irgendein verängstigter Batteriechef draußen beim Raumhafen von Burroughs von seiner Existenz erführe und beschlösse, mit dem Problem reinen Tisch zu machen. Sie könnten binnen Minuten nach einer solchen Entscheidung tot sein.
Aber so war das Leben auf dem Mars. Sie konnten binnen Minuten wie immer durch jede Menge unerwarteter Ereignisse tot sein. Sie ließ den Gedanken fallen und ging mit Sax die Treppe hinunter.
Sie wollte nach Burroughs hineingehen und etwas sehen, um an Ort und Stelle zu sein und sich selbst ein Urteil zu bilden. Umhergehen und die Bürger der Stadt anschauen, sehen, was sie machten und sagten. Spät am Donnerstag sagte sie zu Sax: »Komm, laß und hineingehen und einen Blick darauf werfen!«
Aber das schien unmöglich zu sein. »Die Sicherheit ist an allen Toren sehr streng«, sagte Maya ihr über das Armband. »Und die ankommenden Züge werden am Bahnhof scharf kontrolliert. Dasselbe gilt für die U-Bahn zum Raumhafen. Die Stadt ist geschlossen. Wir sind praktisch Geiseln.«
»Was geschieht, können wir auf dem Bildschirm sehen«, erklärte Sax. »Das macht nichts aus.«
Nadia stimmte mißmutig zu. Offenbar shikata ga nai. Aber die Situation gefiel ihr nicht, da sie sich nach ihrer Meinung zu rasch einem Patt näherte, mindestens lokal. Und sie war höchst neugierig auf die Verhältnisse in Burroughs. »Sag mir, wie es steht!« sagte sie zu Maya über die Telefonverbindung.
»Nun, sie haben die Kontrolle über die Infrastruktur«, sagte Maya. »Physikalische Versorgungsanlage, Tore und so weiter. Aber sie sind nicht genug Leute, um die Menschen in Hausarrest zu halten oder zur Arbeit zu zwingen und dergleichen. Sie scheinen also nicht zu wissen, was sie als nächstes tun sollen.«
Nadia konnte das verstehen, da auch sie einen Verlust empfand. Jede Stunde kamen mehr Sicherheitskräfte in die Stadt mit Zügen aus Kuppelstädten, die man aufgegeben hatte. Diese neu Angekommenen vereinigten sich mit ihren Kameraden und blieben in Nähe der Versorgungsanlage und der Stadtbüros. Sie bewegten sich unbehelligt in schwerbewaffneten Gruppen in der Stadt. Sie waren in Wohnbezirken von Branch Mesa, Double Decker Butte und Black Syrtis Mesa einquartiert; und ihre Anführer trafen sich mehr oder weniger ständig im UNTA-Hauptquartier in Table Mountain. Aber sie erteilten keine Befehle.
Somit waren die Dinge unbehaglich in der Schwebe. Die Büros von Biotique und Praxis dienten allen noch als Informationszentren. Sie verbreiteten Nachrichten von der Erde und dem Rest des Mars auf Bulletintafeln und Computertexten. Diese Medien bedeuteten zusammen mit Mangalavid und anderen privaten Kanälen, daß jedermann über die letzten Entwicklungen gut informiert war. Auf den großen Boulevards und in den Parks sammelten sich von Zeit zu Zeit große Menschenmassen. Aber, häufiger waren die Leute in Dutzenden kleiner Gruppen verteilt, die in einer Art aktiver Paralyse umherzogen, irgendwie zwischen einem Generalstreik und Geiselkrise. Ein jeder wartete darauf, was als nächstes geschehen würde. Die Leute schienen in guter Stimmung zu sein. Viele Läden und Restaurants waren noch offen, und Video-Interviews, die darin auf Band aufgenommen wurden, zeigten sie freundlich.
Nadia beobachtete sie, während sie eine Mahlzeit hinunterschlang, und fühlte ein schmerzhaftes Verlangen, dort drin zu sein und selbst zu den Leuten zu sprechen. Etwa um zehn an diesem Abend erkannte sie, daß sie noch stundenlang nicht würde schlafen können. Sie rief wieder Maya an und bat sie, eine Vidcambrille aufzusetzen und für sie in der Stadt spazierenzugehen. Maya, ebenso rastlos wie sie, wenn nicht noch mehr, willigte gern ein.
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