Also fuhr er sie nach Norden zu einem Punkt unter der Strecke von Sheffield nach Burroughs durch einen langen Tunnel, der gerade etwas breiter war als sein Wagen. Die Nacht verbrachten sie in diesem schwarzen Loch, ergänzten ihre Vorräte aus eingelassenen Geheimkammern und schliefen den unbehaglichen Schlaf von Höhlenforschern. In der Nähe von Sabishii fuhren sie in einen anderen verborgenen Tunnel hinunter und legten einige Kilometer zurück, bis sie in eine kleine Garagenhöhle gelangten. Die war ein Teil des Haldenlabyrinths der Leute von Sabishii, und die klotzigen Steinhöhlen dahinter waren wie neolithische Ganggräber. Sie wurden durch Neonlampen beleuchtet und von Vulkanschloten erwärmt.
Sie wurden dort von Nanao Nakayama begrüßt, einem Issei, der so fröhlich wie immer schien. Sabishii war mehr oder weniger zu ihnen zurückgekehrt; und obwohl sich UNTA-Polizei in der Stadt und besonders an den Toren und dem Bahnhof befand, hatte sie immer noch keine Ahnung von dem vollen Umfang der Haldenkomplexe und war daher nicht imstande, die Bemühungen Sabishiis, dem Untergrund zu helfen, völlig zu verhindern. Sabishii war, wie er es ausdrückte, nicht mehr eine offene Demimonde; aber sie waren noch aktiv.
Indessen wußte auch er nicht, wie es Hiroko ergangen war. Er sagte: »Wir haben nicht gesehen, daß die Polizei irgendwelche von ihnen abgeführt hat. Aber wir haben Hiroko und ihre Gruppe auch nicht hier unten gefunden, nachdem sich die Lage beruhigt hatte. Wir wissen nicht, wohin sie gegangen sind.« Er zupfte an seinem Türkisohrring, offensichtlich verwirrt. »Ich denke, die haben sich wohl zu eigenen Plätzen begeben. Hiroko war immer darauf bedacht, überall, wohin sie kam, ein Schlupfloch anzulegen. Das hat Iwao mir einmal erzählt, als wir am Ententeich eine Menge Sake getrunken haben. Und mir scheint, daß das Verschwinden eine Gewohnheit Hirokos ist, aber nicht eine der Übergangsbehörde. Wir können also vermuten, daß sie sich dazu entschlossen hat. Aber jetzt wollt ihr sicher ein Bad nehmen und etwas zu essen haben. Und dann könnt ihr mit einigen Sansei und Yonsei sprechen, die mit uns ins Versteck gegangen sind. Das würde ihnen guttun.«
So blieben sie über eine Woche im Labyrinth, und Maya kam mit verschiedenen Gruppen der kürzlich Verschwundenen zusammen. Sie verbrachte die meiste Zeit damit, sie zu ermutigen und ihnen zu versichern, daß sie recht bald wieder auf die Oberfläche und sogar nach Sabishii würden hinauskommen können. Die Sicherheitsmaßnahmen wurden schärfer, aber die Netze waren leicht zu durchdringen und die alternative Ökonomie zu ausgedehnt, um eine totale Kontrolle zu ermöglichen. Die Schweiz würde ihnen neue Pässe geben, Praxis würde ihnen Arbeit beschaffen, und sie würden wieder im Geschäft sein. Es war aber wichtig, daß sie ihre Anstrengungen koordinierten und der Versuchung widerständen, zu früh loszuschlagen.
Nanao sagte Maya nach einem solchen Treffen, daß Nadia in South Fossa ähnliche Appelle äußerte und daß das Team von Sax sie um mehr Zeit bäte.
Es gab also einige Übereinstimmung hinsichtlich der Politik, zumindest unter den Oldtimern. Es waren also die radikaleren Gruppen, die am schwierigsten von ihnen im Zaum zu halten waren; und hier hatte Cojote den größten Einfluß. Er wollte persönlich einige Flüchtlinge der Roten besuchen, und Maya und Michel kamen mit, um nach Burroughs zu gelangen.
Das Gebiet zwischen Sabishii und Burroughs war von Krateraufschlägen gesättigt, so daß sie sich bei Nacht zwischen runden Hügeln mit flachen Gipfeln hindurchwanden und bei der Dämmerung jedesmal in kleinen Schutzräumen an den Rändern anhielten, die gedrängt voller Roter waren, die sich Maya und Michel gegenüber nicht besonders gastfreundlich zeigten. Aber sie hörten Cojote sehr aufmerksam zu und tauschten mit ihm Nachrichten aus über Dutzende von Orten, von denen Maya nie gehört hatte. In der dritten derartigen Nacht kamen sie den steilen Hang der Großen Böschung hinunter durch einen Archipel von Mesa-Inseln und dann jäh auf die glatte Ebene von Isidis. Sie konnten weit über das Becken blicken bis dahin, wo ein Hügel wie der der Moholes von Sabishii quer über das Land verlief in einer großen Kurve vom Krater Du Martheray auf der Großen Böschung nach Nordwesten auf Syrtis zu. Das war der neue Deich, wie Cojote ihnen sagte, erbaut von einer Robotermannschaft aus dem Elysium- Mohole. Der Deich war wirklich massiv und sah aus wie einer der Basalt-Dorsa des Südens, nur verriet seine samtige Struktur, daß er aus aufgehäuftem Regolith bestand und nicht aus hartem vulkanischem Gestein.
Maya betrachtete die lange Bodenwelle. Die sich überstürzenden Konsequenzen ihrer Aktionen schienen irgendwie außer Kontrolle geraten zu sein.
Sie konnten versuchen, Bollwerke zu errichten, um sie zusammenzuhalten. Aber würden diese Dämme halten?
Dann waren sie wieder in Burroughs, hineingelangt durch das südöstliche Tor mit ihren Schweizer Ausweisen und sicher in einem Haus, das von Bogdanovisten aus Vishniac betrieben wurde, die jetzt für Praxis arbeiteten. Das geschützte Haus war ein luftiges helles Apartment etwa halbwegs auf der nördlichen Mauer von Hunt Mesa mit einem Blick über das zentrale Tal bis zu Branch Mesa und Double Decker Butte. Das Apartment darüber war ein Tanzstudio, und viele Stunden des Tages lebten sie mit einem schwachen bum — bum-bum — bum — bum-bum. Direkt über dem Horizont markierte eine unregelmäßige Wolke aus Staub und Dampf, wo die Roboter noch am Deich arbeiteten. Jeden Morgen schaute Maya nach dort hinaus und dachte über die Nachrichten von Mangalavid und die langen .Berichte von Praxis nach. Dann ging es an das Tagewerk, das völlig im Untergrund stattfand und sich oft auf Zusammenkünfte im Apartment beschränkte oder die Arbeit an Videonachrichten. Es war also durchaus nicht so ähnlich wie das Leben in Odessa, und es war schwer, irgendwelche Gewohnheiten zu entwickeln, was ihr eine ungute und düstere Stimmung bereitete.
Aber sie konnte immer noch durch die Straßen der großen Stadt gehen als eine anonyme Bürgerin wie tausend andere. Sie spazierte am Kanal entlang oder saß in Restaurants um den Princess Park oder auf einem der weniger beliebten Mesagipfel. Und wohin sie auch ging, sah sie die klaren roten Buchstaben ihrer Graffiti: FREIER MARS! Oder MACHT EUCH BEREIT! Oder, als ob sie eine Halluzination einer Warnung durch ihre eigene Seele hätte: ES FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK. Diese Mitteilungen wurden, soweit sie sehen konnte, von der Bevölkerung ignoriert und oft durch Putzkolonnen entfernt; aber sie tauchten immer wieder in ihrem hellen Rot auf, gewöhnlich auf englisch, manchmal aber auch auf russisch, dessen altes Alphabet ihr wie ein lange verlorener Freund war, wie ein unterschwelliger Blitz aus dem kollektiven Unterbewußtsein der Leute, falls sie eines hatten. Und irgendwie verloren die Botschaften nie ihren kleinen elektrischen Schock. Es war erstaunlich, welch starke Effekte mit so einfachen Mitteln erzielt werden konnten. Man könnte die Menschen wohl zu allem veranlassen, wenn man lange genug davon sprach.
Ihre Begegnungen mit kleinen Zellen der verschiedenen Widerstandorganisationen verliefen gut, obwohl ihr immer klarer wurde, daß es darunter tiefe Unterschiede aller Art gab, besonders die Abneigung, welche die Roten und Leute von MarsErst gegen die Bogdanovisten und Frei-Mars-Gruppen hegten, die die Roten als Grüne und somit eine neue Manifestation des Gegners ansahen. Das konnte Ärger geben. Aber Maya tat, was sie konnte; und mindestens hörte ihr jeder zu, so daß sie glaubte, einigen Fortschritt zu erzielen. Und langsam erwärmte sie sich für Burroughs und ihr verborgenes Leben darin. Michel arrangierte für sie eine Routine mit den Schweizern und Praxis und mit den Bogdanovisten, die jetzt in der Stadt versteckt waren — eine sichere Routine, die ihr gestattete, recht häufig mit Gruppen zusammenzukommen, ohne jemals die Integrität der sicheren Häuser zu gefährden, die sie eingerichtet hatten. Und jedes Meeting schien ein wenig zu helfen. Das einzige unlösbare Problem war, daß so viele Gruppen nach sofortiger Revolution riefen — Rot oder Grün, sie neigten dazu, der radikalen Führung von Anns Roten im Hinterland zu folgen und den jungen Heißspornen um Jackie. Es gab immer mehr Fälle von Sabotage in den Städten, was eine entsprechende Verschärfung der polizeilichen Überwachung auslöste, bis es sehr möglich erschien, daß es bald voll losgehen würde. Maya begann sich als eine Art Bremse zu sehen, und es raubte ihr den Schlaf, wenn sie sich darüber Sorgen machte, wie wenig Leute diese Botschaft hören wollten. Andererseits war sie auch diejenige, welche die alten Bogdanovisten und andere Gruppen von Veteranen über die Macht der Eingeborenenbewegung in Kenntnis setzen mußte und sie aufzuheitern hatte, wenn sie deprimiert wurden. »Ann im Ödland und ihre Roten zerstören grimmig Stellungen. Das darf nicht geschehen!« sagte Maya ihnen immer und immer wieder, obwohl es kein Anzeichen gab, daß Ann diese Botschaft bekam.
Читать дальше