Als nächstes erinnerte sie sich, auf einen Sitz in der Straßenbahn geplumpst zu sein zwischen Michel und Spencer und versucht zu haben, nicht zu weinen. Sie würden Jackie und den Rest ihrer Gruppe aufnehmen müssen, solange sie in Odessa waren. Schließlich war ihr Haus ja sicher. Es war also eine Situation, in der sie nicht entkommen konnte. Inzwischen würden Polizeibeamte vor der Versorgungsfabrik und den Büros der Stadt stehen und die Handgelenke kontrollieren, ehe sie Leute einließen. Wenn sie nicht wieder zur Arbeit ginge, könnte man sehr wohl versuchen, ihr nachzuspüren und nach dem Grund zu fragen; wenn sie aber zur Arbeit ginge und kontrolliert würde, war es nicht sicher, ob ihre Identifikation auf dem Handgelenk und ihr Schweizer Paß ausreichen würden, daß man sie passieren lassen würde. Es gab Gerüchte, daß die nach ’61 erfolgte Balkanisierung von Information allmählich auf größere integrierte Systeme zurückgeführt würde, die einige Vorkriegsdaten bewahrt hatten. Darum die Forderung neuer Pässe. Und falls sie in eines dieser Systeme geriete, wäre sie geliefert. Man würde sie nach den Asteroiden oder Kasei Vallis verfrachten, foltern und ihren Geist zerstören wie bei Sax. »Vielleicht ist es an der Zeit«, sagte sie zu Michel und Spencer. »Wenn sie alle Städte und Strecken blockieren, was haben wir da für eine Wahl?«
Sie antworteten nicht. Sie wußten ebenso wenig, was zu tun wäre, wie sie selbst. Plötzlich schien das ganze Unabhängigkeitsprojekt wieder ein Phantasiegebilde zu sein, ein Traum, der jetzt genauso unmöglich war wie damals, als Arkady dafür eingetreten war. Arkady, der so fröhlich gewesen war und so sehr im Unrecht. Sie würden nie von der Erde frei sein — nie. Sie waren da hilflos.
»Ich möchte erst mit Sax sprechen«, sagte Spencer.
»Und Cojote«, sagte Michel. »Ich muß ihn noch nach mehr von dem fragen, was in Sabishii geschehen ist.«
»Und Nadia«, sagte Maya beklommen. Nadia hätte sich für sie geschämt, wenn sie sie bei dieser Versammlung gesehen hätte. Und das tat weh. Sie brauchte Nadia, die einzige Person auf dem Mars, deren Urteil sie noch vertraute.
Als sie die Straßenbahnen wechselten, beklagte sich Spencer Michel gegenüber: »Mit der Atmosphäre ist etwas Merkwürdiges im Gange. Ich will hören, was Sax dazu zu sagen hat. Die Sauerstoffwerte steigen schneller, als ich erwartet hätte, besonders auf Nord- Tharsis. Es ist so, als wäre ein wirklich erfolgreiches Bakterium ohne jede selbstmöderischen Gene eingeschleust worden. Sax hat sein altes Team von Echus Overlook praktisch wieder beisammen, alle noch am Leben, und sie haben in Acheron und Da Vinci an Projekten gearbeitet, über die sie uns nichts erzählen. Das ist wie damals bei diesen verdammten Windmühlenheizern. Darum will ich mit ihm sprechen. Wir müssen uns dabei zusammentun, sonst… «
»Sonst einundsechzig«, betonte Maya.
»Ich weiß, ich weiß. Du hast damit recht, Maya. Das heißt, ich stimme zu. Ich hoffe, daß das auch für hinreichend viele des Restes von uns gilt.«
»Wir werden mehr tun müssen als bloß hoffen.«
Das bedeutete, sie würde hinausgehen und es selbst machen. Völlig in den Untergrund gehen, von Stadt zu Stadt reisen, von Unterschlupf zu Unterschlupf, wie Nirgal es schon seit Jahren tat, ohne einen Job oder ein Heim, mit so vielen revolutionären Zellen zusammenkommen, wie sie konnte, und versuchen, sie bei der Stange zu halten. Oder sie mindestens davon abhalten, daß sie es zu früh täten. Arbeit am Hellasprojekt würde nicht mehr möglich sein.
Somit war also dieses Leben vorbei. Sie stieg aus der Straßenbahn und blickte kurz über den Park zur Corniche, machte dann kehrt und ging durch das Tor und den Garten, die Treppe hinauf und über den vertrauten Korridor. Sie fühlte sich schwer und alt und äußerst erschöpft. Sie steckte den richtigen Schlüssel ins Schloß., ohne nachzudenken, ging in das Apartment und sah ihre Sachen an, Michels Haufen von Büchern, den Kandinsky-Druck über der Couch, Spencers Zeichnungen, den abgenutzten Kaffeetisch, den abgenutzten Eßtisch mit den Stühlen, die Kochecke, wo alles an seinem Platz war einschließlich des kleinen Gesichtes am Schrank über der Spüle. Vor wie vielen Lebenszeiten hatte sie dieses Gesicht kennengelernt? Alle diese Möbelstücke würden ihrer Wege gehen. Sie stand mitten im Zimmer, aufgebraucht und vereinsamt, bekümmert wegen dieser Jahre, die fast unmerklich verstrichen waren, fast eine Dekade produktiver Arbeit, voll echten Lebens, die jetzt dieser letzte Sturm der Geschichte wegblasen würde in einem Paroxysmus, den sie jetzt versuchen müßte zu lenken oder mindestens zu überdauern. Sie müßte ihr Bestes tun, um ihn in die Wege zu lenken, die ihnen erlauben würden zu überleben. Verdammt sei die Welt, verdammt ihre Zudringlichkeit, ihre gedankenlose Last, ihr unerbittlicher Lauf durch die Gegenwart, der Leben zerstörte, wie es so kam… Sie hatte dieses Apartment, diese Stadt und dieses Leben gern gehabt, mit Michel, Spencer, Diana und allen ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen, allen ihren Gewohnheiten, ihrer Musik und ihren kleinen täglichen Freuden.
Sie schaute traurig Michel an, der in der Tür hinter ihr stand und umherblickte, als ob er den Platz seiner Erinnerung einprägen wollte. Ein gallisches Achselzucken. Er sagte: »Nostalgie im Anrücken« und versuchte zu lächeln. Auch er hatte dieses Gefühl. Er verstand, es war diesmal nicht einfach ihre Stimmung, sondern die Realität selbst.
Sie machte eine Anstrengung und lächelte zurück, ging hin und faßte seine Hand. Unten im Treppenhaus war ein Gepolter zu hören, als die Zygotegruppe heraufkam. Sie konnten in Spencers Apartment bleiben, diese Kerle. »Wenn es gelingt, werden wir eines Tages zurückkommen«, sagte Maya.
Sie gingen im frischen Morgenlicht zum Bahnhof hinunter, vorbei an all den Cafes, bei denen noch die Stühle auf den feuchten Tischen standen. Am Bahnhof riskierten sie ihre alten Personalausweise und bekamen ohne Schwierigkeiten Tickets. Sie nahmen einen entgegen dem Uhrzeigersinn fahrenden Zug nach Montepulciano, legten gemietete Schutzanzüge und Helme an und gingen aus dem Zelt hinaus bergab und verschwanden von der Karte der Oberflächenwelt in einer steilen Schlucht der Vorberge. Dort wartete Cojote auf sie in einem Felsenwagen und fuhr sie mitten durch Hellespontus ein sich verzweigendes Netz von Tälern hinauf über einen Paß nach dem anderen in dieser chaotischen Bergkette, die genau so wild war, wie vom Himmel fallendes Gestein erwarten ließ, ein alptraumhaftes Labyrinth, bis sie auf der Höhe des westlichen Hanges waren, am Rabe-Krater vorbei und auf den von Kratern umgebenen Bergen des Noachis-Gebirges. Und so waren sie wieder außerhalb des Netzes und reisten so, wie Maya es noch nie getan hatte.
Cojote half ihnen sehr beim ersten Teil dieser Unternehmung. Maya hatte den Eindruck, daß er nicht mehr derselbe war — bedrückt und sogar besorgt durch die Eroberung von Sabishii. Er wollte ihre Fragen nach Hiroko und den versteckten Kolonisten nicht beantworten. Er sagte so oft »Ich weiß es nicht«, daß sie anfing, ihm zu glauben, besonders als sich sein Gesicht endlich in einen erkennbaren menschlichen Ausdruck von Kummer verwandelt hatte. Die berühmte unerschütterliche Unbekümmertheit war verschwunden. »Ich weiß wirklich nicht, ob sie herausgekommen sind oder nicht. Ich war schon draußen in dem Labyrinth der Halde, als der Angriff begann; und ich bin so schnell wie möglich in einem Wagen hinausgekommen. Doch aus diesem Ausgang ist sonst niemand gekommen. Aber ich war auf der Nordseite, und sie könnten nach Süden hinausgegangen sein. Auch sie befanden sich in dem Haldenlabyrinth, und Hiroko hat Notschutzräume genau wie ich. Aber ich weiß es einfach nicht.«
»Dann wollen wir losgehen und sehen, ob wir es herausfinden können«, sagte Maya.
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