»Das ist ein ungeheures Unterfangen!« sagte Maya ihnen energisch. »Das übertrifft um Größenordnungen alles, was irgendein Volk bisher hat schaffen können! Dieses Meer wird die Ausmaße des Karibischen haben. Auf der Erde hatte es nie ein Projekt wie dieses gegeben. Auch nicht annähernd!«
Eine nette Frau mit schöner Haut lachte und sagte: »Ich gebe keinen Pfifferling für die Erde.«
Die neue Strecke bog um den südlichen Rand und überquerte steile Grate und Schluchten, die Axius Valles hießen. Diese Unebenheiten verliefen von den Randbergen bis in das Becken hinunter und zwangen die Strecke abwechselnd zu großen Brückenbauten oder tiefen Schneisen oder Tunnels. Der Zug, den sie nach Zea Dorsa bestiegen hatten, war ein kurzer privater, der dem Büro in Odessa gehörte, so daß Maya ihn an den meisten kleinen Bahnhöfen entlang dieser Strecke halten lassen und aussteigen konnte, um die Wassersucher und Bautrupps kennenzulernen und mit ihnen zu sprechen. An einer Station waren nur auf der Erde geborene Einwanderer, für Maya viel besser zu verstehen als die fröhlichen Eingeborenen. Es waren Menschen von mittlerer Größe, die erstaunt und begeistert umherliefen oder enttäuscht und sich beklagend, aber auf jeden Fall sich der Ungeheuerlichkeit ihres Vorhabens bewußt waren. Sie führten Maya in einen Tunnel im Bergrücken; und es stellte sich heraus, daß diese Bodenwelle ein Lavatunnel war, der von Amphitrites herunterführte. Seine zylindrische Höhlung war ebenso groß wie die von Dorsa Brevia, aber sehr stark geneigt. Die Ingenieure pumpten das Wasser aus dem Reservoir von Amphitrite hinein und benutzten sie als Pipeline zum Boden des Beckens. Als daher jetzt die grinsenden, auf der Erde geborenen Wasserbautechniker sie in eine in die Seite der Lavaröhre gehauene Aussichtsgalerie führten und schwarzes Wasser den riesigen Tunnel hinabraste, wobei es selbst mit zweihundert Kubikmetern in der Sekunde kaum den Boden bedeckte und das Dröhnen seines Gusses in dem leeren Basaltzylinder widerhallte, fragten die Emigranten: »Ist das nicht großartig?« Und Maya nickte, erfreut, mit Menschen zusammenzusein, deren Reaktionen sie verstehen konnte. »Gerade wie ein verdammt großer Gewitterabfluß, nicht wahr?«
Aber wieder im Zug nickten die jungen Eingeborenen zu Mayas Ausrufen — Lavaröhre als Pipeline — sehr groß, ja gewiß — ersparte ihnen eine Rohrleitung für die weniger begünstigten Unternehmen, ja? Und dann diskutierten sie weiter über etwas auf dem Boden des Beckens, das Maya nicht sehen konnte.
Der Zug führte sie weiter um den Südwestbogen des Beckens, und die Strecke führte nach Norden. Sie überquerten vier oder fünf größere Pipelines, die sich aus hohen Canyons in den Hellespontus Montes zu ihrer Linken herausschlängelten. Diese Canyons lagen zwischen kahlen gezackten Felsgraten wie etwas aus Nevada oder Afghanistan. Ihre Gipfel waren weiß von Schnee. Aus den Fenstern zur Rechten auf dem Boden des Beckens breiteten sich noch mehr Flecken aus zerbrochenem Eis aus, oft gekennzeichnet durch die flachen weißen Flecken neuer Ergüsse. Auf den Hügeln neben der Piste war man dabei, kleine Kuppelstädte zu bauen, die an die Toscana erinnerten. Maya sagte zu Diana: »Auf diesen niedrigen Hügeln wird es sich gut leben lassen. Sie liegen zwischen dem Gebirge und dem Meer, und aus einigen dieser Canyonmündungen könnten kleine Häfen werden.«
Diana nickte. »Gut für die Schiffahrt.«
Nach der letzten Kurve ihrer Rundfahrt mußte die Strecke den Niesten-Gletscher überqueren, den gefrorenen Rest des mächtigen Ausbruchs, der 2061 Low Point überschwemmt hatte. Diese Passage war schwierig gewesen, da der Gletscher an seiner schmalsten Stelle fünfunddreißig Kilometer breit war und noch niemand Zeit und Gerät aufgebracht hatte, eine Hängebrücke darüber zu bauen. Statt dessen waren mehrere Pylonen durch das Eis gerammt und im Gestein darunter verankert worden. Diese Pfeiler hatten stromaufwärts Eisbrecher; und an der anderen Seite war eine Art Pontonbrücke befestigt, die über das fließende Eis des Gletschers glitt mittels glatter Unterlagen, die sich ausdehnten oder zusammenzogen, um Senkungen und Hebungen im Eis zu kompensieren.
Der Zug wurde langsamer, um über diesen Ponton zu fahren. Als sie darüberfuhren, blickte Maya stromaufwärts. Sie konnte erkennen, wo der Gletscher aus der Lücke zwischen zwei krallenartigen Berggipfeln kam, ganz nahe beim Niesten-Krater. Rebellen, die man nie identifizieren hatte können, hatten das Wasserreservoir von Nielsen mit einer thermonuklearen Explosion aufgebrochen und einen der fünf oder sechs größten Ausbrüche von ’61 ausgelöst, fast so groß wie derjenige, welcher die Marineris-Canyons heimgesucht hatte. Das Eis darunter war immer noch etwas radioaktiv. Aber es lag unter der Brücke still und gefroren da. Die Nachwirkung jener schrecklichen Flut war nur ein erstaunlich zerbrochenes Feld von Eisblöcken. Neben Maya sagte Diana etwas über Kletterer, die gern zum Spaß die Eisfälle des Gletschers emporstiegen. Maya erschauerte vor Entsetzen. Die Menschen waren so verrückt. Sie dachte an Frank, der von der Marinerisflut hinweggerissen worden war, und fluchte laut.
»Das gefällt dir nicht?« fragte Diana.
Sie fluchte wieder.
Eine isolierte Rohrleitung führte auf der Mittellinie des Eises unter dem Ponton durch und nach unten auf Low Point zu. Sie waren immer noch dabei, den Boden des gebrochenen Reservoirs trockenzulegen. Maya hatte den Bau von Low Point beaufsichtigt. Sie hatte dort viele Jahre gelebt, mit einem Ingenieur, an dessen Namen sie sich jetzt nicht erinnern konnte. Und jetzt pumpten sie hoch, was am Boden des Niestenreservoirs übrig geblieben war, um es dem Wasser über jener versunkenen Stadt zuzufügen. Der große Ausbruch von ’61 war jetzt auf die Wassermenge einer kleinen Pipeline reduziert worden, kanalisiert und reguliert.
Maya fühlte in sich den turbulenten Mahlstrom von Emotionen aufgerührt durch alles, was sie auf ihrer Rundreise gesehen hatte, und durch alles, was geschehen war und noch geschehen würde … Ah, die Fluten in ihr, die Stoßwellen in ihrem Gemüt! Wenn sie bloß ihren Geist ebenso einzäumen könnte wie die es mit diesem Wasserlager getan hatten — es trockenlegen, kontrollieren, besänftigen! Aber die hydrostatischen Drücke waren so stark und die Ausbrüche, wenn sie kamen, so wild. Keine Pipeline konnte das verkraften.
»Die Dinge verändern sich«, sagte sie zu Michel und Spencer. »Ich glaube, daß wir die Dinge nicht mehr verstehen.«
Sie richtete sich wieder in ihrem Leben in Odessa ein, froh, zurück zu sein, aber auch verwirrt und wißbegierig sah sie alles neu. An der Wand über ihrem Tisch im Büro hatte sie eine Zeichnung Spencers von einem Alchemisten, der einen großen Band in eine turbulente See schleuderte. Unten hatte er geschrieben: »Ich werde mein Buch ertränken.«
Sie verließ jeden Morgen früh ihr Apartment und ging die Corniche hinunter zum Büro von Deep Waters nahe der trockenen Uferfront, neben einer anderen Firma von Praxis namens Separation de l’Atmosphere. Dort arbeitete sie tagsüber in der Leitung des Synthese-Teams. Sie koordinierte die Feldeinheiten und konzentrierte sich jetzt auf die kleinen mobilen Operationen, die sich um den Boden des Beckens bewegten und in letzter Minute Minerale schürften und das Eis wieder herrichteten. Gelegentlich arbeitete sie am Entwurf dieser kleinen unterwegs befindlichen Weiler und genoß die Rückkehr zur Ergonomie, ihrer ältesten Disziplin außer der Kosmonautik. Eines Tages, als sie am Austausch von Raumabteilen arbeitete, blickte sie auf ihre Skizzen und fühlte einen Ansturm von deja vu. Sie überlegte, ob sie genau diese Arbeit schon früher einmal gemacht hätte, irgendwann in der verlorenen Vergangenheit. Sie fragte sich auch, warum diese Fertigkeiten in der Erinnerung so festsaßen, während Wissen so vergänglich war. Sie konnte sich um keinen Preis an die Ausbildung erinnern, die ihr diese ergonomische Erfahrung vermittelt hatte; aber dennoch besaß sie sie trotz den vielen Dekaden, die vergangen waren, seit sie diese zum letzten Mal angewandt hatte.
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