»Erzähl mir davon!«
Nirgal war Ökologie-Ingenieur und schien einiges von Hirokos Talent geerbt zu haben. Der Mesokosmos des Tals war relativ neu, man pflanzte noch allenthalben; und obwohl der Boden präpariert worden war, ließ Mangel an Stickstoff und Pottasche viele Pflanzen nicht gedeihen. Während sie um den Marktplatz gingen, sprach Nirgal darüber, zeigte auf lokale und importierte Erzeugnisse und schilderte die Ökonomie des Tals. »Sie sind also nicht autark?« fragte Maya.
»Nein, nein. Nicht einmal annähernd. Aber sie ziehen eine Menge ihrer Nahrung und handeln mit anderen Produkten oder geben sie ab.«
Nirgal schien sich gut auf Öko-Ökonomie zu verstehen. Und er hatte schon eine Menge Freunde hier. Er kamen Leute, die ihn umarmten, und da er einen Arm um Mayas Schultern gelegt hatte, wurde sie mit einbezogen und einem jungen Eingeborenen nach dem anderen vorgestellt, die sich alle hocherfreut zeigten, Nirgal wiederzusehen. Er erinnerte sich an alle ihre Namen, fragte nach ihrem Befinden und merkte sich die Fragen, während sie weiter über den Markt schlenderten, vorbei an Tischen mit Brot und Gemüse und Säcken voll Gerste und Kunstdünger und Körben voll Beeren und Pflaumen, bis sich um sie herum eine kleine Volksmenge gebildet hatte wie eine mobile Party, die sich schließlich um lange Kieferntische vor einer Kneipe niederließ. Nirgal behielt Maya während des ganzen Restes des Nachmittags an seiner Seite; und sie betrachtete all die jungen Gesichter, entspannt und glücklich. Ihr fiel auf, wie sehr Nirgal John ähnelte, wie die Menschen sich vor ihm erwärmten und dann gegeneinander warm wurden. Jede Gelegenheit wie ein Fest, von seinem Charme angetan. Sie schenkten sich gegenseitig Getränke ein, sie spendierten Maya ein üppiges Mahl ›alles Eigenbau, alles Eigenbau und redeten miteinander in ihrem schnellen Mars-Englisch, schwatzten über Klatsch und erzählten ihre Träume.
Oh, Nirgal war schon ein ganz besonderer Bursche, so weltentrückt wie Hiroko und doch gleichzeitig höchst normal. Zum Beispiel war Diana an seiner anderen Seite einfach eingehängt, und eine Menge der anderen jungen Frauen sahen so aus, als wären sie gern an ihrer oder Mayas Stelle. Vielleicht war das in der Vergangenheit gewesen. Nun, es hatte gewisse Vorteile, eine alte Babuschka zu sein. Sie konnte ihn schamlos bemuttern, und er grinste nur; und sie konnten nichts tun. Gewiß hatte er etwas Charismatisches an sich: schmale Kiefer, beweglicher fröhlicher Mund, weit auseinanderstehende braune und leicht asiatische Augen, starke Augenbrauen, ungewöhnlich schwarzes Haar, ein langer graziöser Körper, obwohl er nicht so groß war wie die meisten von ihnen. Nichts Außergewöhnliches. Es war hauptsächlich sein Verhalten, freundlich, wißbegierig und zu Frohsinn geneigt.
»Was ist mit Politik?« fragte sie ihn spät an diesem Abend, als sie zusammen vom Dorf zum Fluß gingen. »Was sagst du dazu?«
»Ich benutze das Dokument von Dorsa Brevia. Meines Erachtens sollten wir es sofort in Kraft setzen, in unserem alltäglichen Leben. Die meisten Leute in diesem Tal haben das offizielle Netz verlassen, siehst du, und leben in der alternativen Ökonomie.«
»Das habe ich gemerkt. Das ist mir hier besonders aufgefallen.«
»Na schön, und du siehst, was passiert. Den Sansei und Yonsei gefällt es. Sie halten es für ein bei ihnen gewachsenes System.«
»Die Frage ist, was die UNTA davon hält.«
»Was kann sie da machen? Ich glaube nicht, daß sie sich darum kümmert, soweit ich sehe.« Er war ständig auf Reisen und war das schon seit Jahren und hatte viel vom Mars gesehen, viel mehr als Maya, wie ihr klar wurde. »Wir sind schwer zu sehen und scheinen sie nicht herauszufordern. Also machen sie sich um uns keine Gedanken. Sie wissen nicht einmal, wie weit verbreitet wir sind.«
Maya schüttelte zweifelnd den Kopf. Sie standen am Ufer des Flusses, der an dieser Stelle gurgelnd über Untiefen strömte. Seine nächtlich purpurne Oberfläche reflektierte kaum das Licht der Sterne. Nirgal sagte: »Er ist so schlammig.«
»Es ist eine Art politischer Partei, Nirgal, oder eine soziale Bewegung. Du mußt ihr einen Namen geben.«
»Oh! Nun, manche sagen, wir wären Boone-Anhänger oder eine Flügelgruppe von MarsErsten. Ich selbst gebe ihm keinen Namen. Vielleicht Ka. Oder Freier Mars. Wir sagen das als eine Art Gruß. Verbum, Nomen — was immer. Freier Mars.«
»Hmm«, sagte Maya und fühlte den kühlen feuchten Wind auf der Wange und Nirgals Arm um ihre Taille. Eine alternative Ökonomie, die ohne die Regel des Gesetzes funktionierte, war verlockend, aber gefährlich. Sie konnte sich in eine von Gangstern beherrschte schwarze Ökonomie verwandeln; und kein idealistisches Dorf würde viel dagegen ausrichten können. Darum war sie ihres Erachtens als Lösung für die Übergangsbehörde irgendwie illusorisch.
Als sie aber Nirgal gegenüber diese Vorbehalte äußerte, stimmte er zu. »Ich halte es nicht für den endgültigen Schritt. Aber ich denke, es hilft. Es ist das, was wir jetzt tun können. Und dann, wenn die Zeit kommt… «
Maya nickte in der Dunkelheit. Sie gingen zusammen ins Dorf zurück, wo die Party noch im Gange war. Jedenfalls brachten die fünf jungen Frauen es zuwege, daß sie die letzten an Nirgals Seite waren, als die Party endete; und mit einem nur leicht verkrampften Lachen (wenn sie jung wäre, hätten sie keine Chance gehabt) überließ sie ihn ihnen und ging zu Bett.
Nachdem sie zwei Tage lang von dem Marktdorf stromabwärts gefahren waren, immer noch vierzig Kilometer von Hell’s Gate entfernt, kamen sie an eine Windung des Canyons und konnten seine ganze Länge übersehen, bis zu den Türmen der Hängebrücke der Bahn. Wie etwas aus einer anderen Welt, dachte Maya, mit einer völlig anderen Technik. Die Türme waren sechshundert Meter hoch und standen zehn Kilometer voneinander entfernt — eine wahrhaft immense Brücke, die die Stadt von Hell’s Gate zwergenhaft erscheinen ließ, die erst nach einer weiteren Stunde über dem Horizont auftauchte und dann von dessen Rand an in Sicht kam. Ihre Gebäude ergossen sich in den steilen Canyon wie eine dramatische Küstenstadt in Spanien oder Portugal, aber ganz im Schatten der riesigen Brücke. Riesig, ja; aber in Chryse gab es Brücken, die doppelt so groß waren. Und bei den ständigen Verbesserungen im Material war kein Ende abzusehen. Das Karbon-Nanotubenfilament des neuen Aufzugs hatte eine Zugfestigkeit, die selbst die Erfordernisse des Aufzugs in den Schatten stellte. Und damit würde man an der Oberfläche jede Brücke bauen können, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Man sprach davon, Marineris zu überbrücken; und es gab Witze, daß man zwischen den Vulkanen auf Tharsis Drahtseilbahnen einrichten würde, um den Leuten die vertikalen Abstiege zwischen den drei Piks zu ersparen.
Wieder zurück in Hell’s Gate, lieferten Maya und Diana den Wagen in der Garage ab und hatten ein großes Dinner in einem Restaurant auf halber Höhe der Mauer unter der Brücke. Danach hatte Diana sich mit Freunden verabredet; darum entschuldigte sich Maya und ging zum Büro von Deep Waters und in ihr Zimmer. Aber außerhalb der Glastüren, über ihrem kleinen Balkon wölbte sich der große Bogen der Brücke zwischen den Sternen und erinnerte sie an Dao Canyon und dessen Bewohner; und das schwarze Hadriaca mit den weißen Bändern seiner mit Schnee gefüllten Kanäle. Sie hatte Mühe einzuschlafen. Sie ging ins Freie und setzte sich in eine Decke gekuschelt auf ihrem Balkon in einen Sessel, um während eines großen Teils der Nacht die Unterseite der gigantischen Brücke zu betrachten und über Nirgal und die jungen Eingeborenen nachzudenken und was sie wollten.
Am nächsten Morgen hatten sie den nächsten Zug rund um Hellas nehmen wollen; aber Maya bat Diana, sie statt dessen zum Boden des Beckens hinauszufahren, um selbst zu sehen, was mit dem Wasser geschah, das den Dao-Fluß hinabströmte. Diana gewährte ihr gern diese Bitte.
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