»Odessa.«
Ein Moment Ungewissen Schweigens.
Dann ein hohes Piepen. »Angenehmen Aufenthalt!«, und sie waren weg.
Maya versuchte langsam und gleichmäßig zu atmen. Die Leser am Handgelenk maßen den Puls; und wenn er über etwa 110 lag, meldeten sie das dem Applikator. Das war eine Art einfacher Lügendetektor. Offenbar war sie unter dem Strich geblieben. Aber ihre Stimme und ihre Netzhaut. Die waren nie geändert worden. Die Schweizer Paßidentität mußte wirklich mächtig sein und die früheren Identitäten überspielen, wenn man sie abfragte, mindestens in diesem Sicherheitssystem. Hatten die Schweizer das getan oder die von Sabishii oder Cojote oder Sax oder eine ihr unbekannte Macht? Hatte man sie wirklich erfolgreich identifiziert und gehen lassen, um ihr so nachzuspüren, daß sie sie zu mehr der flüchtigen Hundert führen würde? Das könnte ebenso wahrscheinlich sein wie das Überwinden der großen Datenbanken — vielleicht sogar noch wahrscheinlicher.
Aber im Moment ließ man sie in Ruhe. Die Polizei war gegangen. Maya klopfte mit den Fingern auf das Lesegerät, und ohne nachzudenken rief sie ihre letzte Lektüre wieder auf. Michel hatte recht. Sie fühlte sich zäh und hart, als sie sich wieder in diesen Stoff versenkte. Theorien zur Erklärung des Todes von John Boone. John war getötet worden; und jetzt wurde sie von der Polizei kontrolliert, während sie in einem gewöhnlichen Zug über den Mars reiste. Es war ganz deutlich zu fühlen, daß es da eine gewisse Ursache und Wirkung gab, daß es nicht so sein würde, wenn John gelebt hätte.
Alle Hauptfiguren dieser Nacht sind angeklagt, hinter dem Mord zu stehen: Russell und Hoyle wegen scharfer Meinungsverschiedenheiten in der MarsErst-Politik; Toitovna wegen eines Streits in Liebessachen; und die ethnischen oder nationalen Gruppen auf Grundlage echter oder eingebildeter politischer Quereten. Aber sicher war im Laufe der Jahre der Hauptverdacht auf die Person von Frank Chalmers gefallen. Obwohl man beobachtet hatte, daß er zur Zeit des Angriffs mit Toitovna beisammen war (wobei in einigen Theorien Toitovna als zusätzliche oder mitwirkende Verschwörerin genannt wird), machen seine Beziehungen mit den Ägyptern und Saudis in Nicosia und sein lange währender Konflikt mit Boone unvermeidbar, daß er oft als letzte Ursache der Ermordung Boones angesehen wird. Wenige, wenn überhaupt einige, bestreiten, daß Selim el-Hayil der Anführer der drei Araber war, die vor ihren Selbstmorden oder Morden ein Geständnis abgelegt haben. Aber das verstärkt nur den Verdacht gegen Chalmers, der ein Vertrauter el-Hayils war. Samisdat und Dokumente für nur einmaligen Gebrauch sollen die Geschichte erzählen, daß sich der ›blinde Passagier« in Nicosia befand und Chalmers in dieser Nacht im Gespräch mit el-Hayil beobachtet haben soll. Da der »blinde Passagier‹ ein mythischer Mechanismus ist, mit dem die Leute die anonymen Wahrnehmungen des gewöhnlichen Marsbewohners verbinden, ist es durchaus möglich, daß eine solche Geschichte die Beobachtungen von Menschen wiedergibt, die Zeugen waren, aber nicht als solche bekannt werden wollten.
Maya klickte auf den Schluß.
El-Hayil war im Spätstadium eines tödlichen Krampfes, als er in das Hotel eindrang, das von den Ägyptern bewohnt war, und den Mord an Boone gestand mit der Versicherung, daß er der Anführer gewesen sei, aber von Rashhid Abou und Buland Besseisso des Ahad- Flügels der Muslimbruderschaft Unterstützung gehabt hätte. Die Leichen von Abou und Besseisso wurden später an diesem Nachmittag in einem Zimmer in der Medina gefunden, vergiftet durch Gerinnungsmittel, die sie sich selbst oder gegenseitig beigebracht zu haben schienen. Die tatsächlichen Mörder von Boone waren damit alle tot. Warum sie das taten und mit wem sie zusammengearbeitet haben könnten, wird man nie erfahren. Es hat nicht zum ersten Mal eine solche Lage gegeben und auch nicht zum letzten Mal, denn wir verbergen ebenso viel, wie wir suchen.
Bei der Durchsicht von Fußnoten wurde Maya wieder davon erschüttert, was für ein Thema das war, diskutiert von Historikern und Forschern und Konspirationsfanatikern jeder Schattierung. Mit einem Schauder des Widerwillens schaltete sie das Gerät ab, wandte sich dem Doppelfenster zu und schloß fest die Augen. Sie bemühte sich, den Frank wiederherzustellen, den sie gekannt hatte, und auch Boone. Sie hatte seit Jahren kaum an John gedacht; so groß war der Schmerz gewesen. Andererseits hatte sie aber auch nicht an Frank denken wollen. Jetzt wünschte sie sich beide zurück.
Der Kummer war zu einem peinigenden Gespenst geworden, und sie mußte sie wiederhaben um ihres eigenen Lebens willen. Sie mußte wissen.
Der ›mythische‹ blinde Passagier … Sie knirschte mit den Zähnen und hatte wieder jene halluzinatorische Angst bei seinem ersten Anblick, sein Gesicht durch das gebogene Glas verzerrt und großäugig. Wußte der etwas? War er wirklich in Nicosia gewesen? Desmond Hawkins, der blinde Passagier, der ›Cojote‹. Er war ein merkwürdiger Mensch. Maya hatte nie mit ihm unbefangen reden können. Schwer zu sagen, ob sie jetzt dazu imstande sein würde, da es sein mußte. Aber sie bezweifelte es.
Was ist los? hatte sie Frank gefragt, als sie das Gebrüll hörten.
Ein hartes Achselzucken, ein abgewandter Blick. Etwas, das in der Hitze des Moments geschehen war. Wo hatte sie das schon einmal gehört? Er hatte weggeblickt, als er das sagte, als ob er ihren Blick nicht ertragen könnte. Als ob er irgendwie zu viel gesagt hätte.
Die Bergketten um das Hellasbecken waren im westlichen Halbmond die ausgedehntesten. Sie hießen Hellespontus Montes, die Gebirge des Mars, die am meisten an irdische erinnerten. Nach Norden, wo die Strecke von Sabishii und Burroughs in das Becken führte, waren die Berge schmaler und weniger hoch. Das lag nicht so sehr am Gebirge, als vielmehr an der ungleichen Senkung zum Boden des Beckens hin. Das Land zog sich in niedrigen konzentrischen Wellen zum Norden hin. Die Piste führte durch diesen hügligen Hang nach unten, oft in Spitzkehren über lange Rampen, die in die Flanken der immer niedriger werdenden Gebirgswellen geschnitten waren. An den Wendepunkten wurde der Zug viel langsamer; und Maya konnte oft minutenlang aus ihrem Fenster entweder direkt auf den kahlen Basalt des Höhenzugs blicken, den sie hinunterfuhren, oder weit über das nordwestliche Hellas, das noch dreitausend Meter unter ihnen lag — eine große flache Ebene, die im Vordergrund ocker-, olivgrün- und khakifarben war und dann fern am Horizont ein Gewirr von schmutzigem Weiß zeigte, das wie ein zerbrochener Spiegel glitzerte. Das war der Gletscher von Low Point. Er war noch größtenteils gefroren, taute aber in jedem Jahr mehr auf, mit Schmelztümpeln an der Oberfläche und tieferen Teichen weit unten. Diese Teiche wimmelten von Leben und brachen gelegentlich an die Oberfläche durch oder sogar auf das benachbarte Land; denn dieser Eiszipfel wuchs schnell an. Man pumpte Wasser aus Reservoiren unter dem umgebenden Gebirge auf den Boden des Beckens. Die starke Depression im nordwestlichen Teil des Beckens, wo Low Point und das Mohole gewesen waren, war das Zentrum des neuen Meeres, das über tausend Kilometer lang und über Low Point bis zu dreihundert Kilometer breit war. Und es lag an der tiefsten Stelle des Mars. Eine vielversprechende Situation, wie Maya schon bei ihrer Landung sofort behauptet hatte.
Die Stadt Odessa war auf dem Nordhang des Beckens angelegt auf der Höhe von –1 km, wo man den Wasserspiegel des Meeres stabilisieren wollte. Es war also ein Hafen, der auf Wasser wartete. Zu diesem Zweck war der Südrand der Stadt auch eine lange Strandpromenade oder Corniche, eine breite begrünte Esplanade, die innerhalb der Kuppel verlief, die in der Ecke von einer hohen Wassermauer geschützt war, die jetzt noch auf kahlem Boden stand. Der Anblick der Wassermauer machte, als der Zug jetzt näher kam, den Eindruck einer halben Stadt, von der ein südlicher Teil abgesplittert und verschwunden war.
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