Ann war nicht gesellig. Sie sprach kaum zu ihm. Es war ihre gewöhnliche Route, vermutete er, als er ihr folgte. Er durfte mitkommen.
Vielleicht war es gestattet, Fragen zu stellen. Das war Wissenschaft. Und Ann blieb öfters stehen, um Steinformationen aus der Nähe zu betrachten. Es war sinnvoll, sich bei solchen Gelegenheiten neben sie zu hocken und mit einer Geste oder einem Wort zu fragen, was sie fand. Sie trugen Schutzanzüge und Helme, obwohl die Höhe gering genug war, um Atmen mit Hilfe einer Filtermaske für Kohlendioxid zu gestatten. Also bestanden die Gespräche nur aus Worten im Ohr, wie in alten Zeiten. Man stellte Fragen.
Also fragte er. Und Ann antwortete, manchmal auch im Detail. Tempe Terra war wirklich das Land der Zeit. Seine Basisformation war ein übrig gebliebenes Stück der Gebirge des Südens, einer jener Ausläufer davon, die weit in die nördlichen Ebenen hineinragten, den Großen Treffer überlebt hatten. Später war Tempe dann weithin zerbrochen worden, als die Lithosphäre von unten durch den Tharsis-Buckel nach Süden gepreßt wurde. Zu diesen Bruchstellen zählten sowohl die Mareotis Fossae wie die Tempe Fossae, welche sie jetzt umgaben.
Das Land war so zerbrochen, daß einige späte Vulkane aufgestiegen waren, die sich über die Canyons ergossen hatten. Von einem hohen Grat aus sahen sie in der Ferne einen Vulkan wie einen vom Himmel gefallenen Kegel aufragen und dann einen anderen, der, soweit Sax erkennen konnte, genau wie ein Meteoritenkrater aussah. Ann schüttelte zu dieser Bemerkung den Kopf und deutete auf Lavaströme und Schlote. Merkmale, die alle sichtbar waren, wenn man einmal darauf hingewiesen worden war. Aber nicht alle waren deutlich zu erkennen unter einem Geröll aus später ausgeworfenem Material und — das mußte man zugeben — einer Schicht aus staubigem Schnee, der im Licht des Sonnenuntergangs die Farbe von Sand annahm.
Anns Vision war, aufgrund eines Jahrhunderts genauer Beobachtung und Studien, die Landschaft in ihrer Geschichte zu sehen, sie wie einen Text zu lesen, der von ihrer langen Vergangenheit geschrieben worden war, und sie zu lieben. Wirklich etwas zu sehen und zu bewundern. Eine Art von Schatz, eine Liebe über jede Wissenschaft hinaus, oder etwas, das in den Bereich von Michels mystischer Wissenschaft fiel: Alchemie. Aber Alchemisten wollten die Dinge verändern. Eher eine Art Orakel. Eine Vision, ebenso machtvoll wie die Hirokos. Eine weniger augenfällige Vision vielleicht und weniger aktiv. Die Annahme dessen, was es dort gab. Liebe zum Stein um des Steins willen. Um des Mars willen. Der urtümliche Planet in all seiner sublimen Glorie, rot und rostfarben, still wie der Tod. Durch die Jahre verändert nur durch chemische Änderungen der Materie, das immens langsame Leben der Geophysik. Es war eine seltsame Vorstellung: Abiologisches Leben. Aber es war da, wenn man sich bemühte, es zu erkennen. Eine Art von Leben, das sich da draußen abspielte und bewegte — durch die brennenden Sterne. Sich durch das Universum in seinem großen systolisch/diastolischen Rhythmus bewegte, seinem einen großen Atem, wie man sagen könnte. Der Sonnenuntergang machte es leichter, das zu sehen.
Er versuchte, die Dinge mit Anns Augen zu sehen.
Hinter ihrem Rücken schaute er heimlich auf sein Armbandgerät. Stone aus dem altenglischen stän, hat überall verwandte Wörter, bis hin zum indogermanischen sti für einen kleinen Stein. Rock = Fels, aus dem mittelalterlich lateinischen rocca, ist unbekannten Ursprungs und bezeichnet eine Gesteinsmasse. Sax verzichtete auf das Armband und verfiel in eine Art von Felsträumerei — offen und leer. Tabula rasa bis hin zu dem Punkt, wo er offenbar nicht hörte, was Ann zu ihm sagte; denn sie knurrte und ging weiter. Verlegen folgte er ihr, tat so, als ob er ihr Mißvergnügen ignorierte, und stellte weitere Fragen.
Ann schien sehr schlecht gelaunt zu sein. Das war in gewisser Weise beruhigend. Mangel an Affekt wäre ein sehr schlechtes Zeichen gewesen; aber sie wirkte immer noch recht emotional. Zumindest die meiste Zeit. Manchmal konzentrierte sie sich so stark auf das Gestein, daß es fast schien, sie würde ihrem alten, besessenen Enthusiasmus huldigen, und er war ermutigt. Andere Male schien es, als ob sie nur den Emotionen nachginge und Areologie betriebe in einem verzweifelten Versuch, den jetzigen Moment und die Geschichte abzuschieben, oder die Verzweiflung, oder all das. In solchen Momenten war sie ziellos und blieb nicht stehen, um deutlich interessante Merkmale zu betrachten, an denen sie vorbeikamen; und beantwortete auch keine Fragen dazu. Der kleine Sax hatte Alarmierendes über Depression gelesen. Man konnte nicht viel tun. Man brauchte Drogen, um dagegen zu kämpfen; und selbst dann war nichts sicher. Aber Antidepressiva vorzuschlagen war mehr oder weniger dasselbe, wie die Behandlung selbst vorzuschlagen. Darum konnte er nicht darüber sprechen. Und außerdem — war Verzweiflung nicht dasselbe wie Depression?
Zum Glück gab es in diesem Gebiet jämmerlich wenige Pflanzen. Tempe war nicht wie Tyrrhena oder auch nur die Ränder des Arena-Gletschers. Ohne aktive Gartenarbeit war dies das Ergebnis: Die Welt blieb steinig.
Andererseits lag Tempe auf geringer Höhe und war feucht, mit dem Eisozean nur wenige Kilometer im Norden und Westen. Und etliche John-Appleseed- Flüge waren über der ganzen südlichen Küstenlinie des neuen Meeres ausgeführt worden — teils auf Bemühungen von Biotique schon vor einigen Dekaden, als Sax in Burroughs gewesen war. Man konnte darum einige Flechten sehen, wenn man scharf hinschaute. Und kleine Flecke von Fjellfeld. Außerdem ein paar Krummholzbäume, die halb im Schnee begraben waren. All diese Pflanzen hatten Mühe mit diesem nördlichen, zum Winter gewordenen Sommer, ausgenommen natürlich die Flechten. Es gab schon einen merklichen Anteil an verkleinerter Herbstfarbe — dort in den kleinen Blättern der an den Boden geduckten Koenigia, kleinwüchsigem Hahnenfuß und Eisgras, sowie — ja — arktischem Steinbrech. Man mußte nur genau hinsehen, denn die sich rötenden Blätter dienten als eine Art von Tarnung im roten Gestein der Umgebung. Sax sah Pflanzen oft nicht, bis er fast darauf trat. Und natürlich wollte er Anns Aufmerksamkeit nicht darauf lenken. Wenn er also auf eine stieß, warf er nur einen raschen bewertenden Blick darauf und ging weiter.
Sie erklommen einen Hügel, der über den Canyon westlich des Stützpunktes ragte; und da war es: das große Eismeer, in dem späten Licht ganz orange- und messingfarben. Es füllte das Tiefland in einem weiten Bereich und bildete seinen eigenen glatten Horizont von Südwesten bis Nordosten. Mesas aus dem zergliederten Terrain ragten jetzt wie Inseln mit steilen Klippen aus dem Eis heraus. Tatsächlich entwickelte sich dieser Teil von Tempe zu einer der dramatischsten Küstenlinien auf dem Mars, bei dem die unteren Enden mancher Fossae, die überschwemmt worden waren, lange Fjords oder Lochs bildeten. Und ein Küstenkrater lag genau auf dem Niveau des Meeres und hatte eine Lücke zum Wasser hin, so daß er eine perfekte runde Bucht von etwa fünfzehn Kilometern Durchmesser mit einem Zugangskanal von etwa zwei Kilometern Breite bildete. Weiter im Süden schuf das zergliederte Terrain am Fuße der Großen Böschung eine wahre Hebriden-Gruppe aus Archipelen. Viele der Inseln waren von den Klippen des Hauptlandes aus zu sehen. Ja, wirklich eine dramatische Küstenlinie, wie man schon erkennen konnte, wenn man die zerbrochenen Eisschollen bei Sonnenuntergang betrachtete.
Ganz zu schweigen von all dem Eis und den zerklüfteten Bergen an der neuen Küstenlinie. Die Hügel hatten sich durch einen Prozeß gebildet, den Sax nicht kannte, obwohl er ihn interessierte. Aber man konnte nicht darüber diskutieren. Man konnte nur still dastehen, als ob man auf einen Friedhof geraten wäre.
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