»Und was ist daran so schlimm, wenn sie anders sind?« fragte Carol. »Ein Maler hat doch sicher das Recht, alles zu malen, was er will.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Maxwell. »Das bezweifelt keiner. Aber dieses Bild stammt von der Erde. Wenn der schwarze Block das Ding ist, was ich fest glaube, dann stellt das Bild die Erde dar, und zwar die Erde des Jura-Zeitalters.«
»Und Sie sind der Meinung, daß die anderen Bilder nicht die Erde wiedergeben? Das ist doch unmöglich. Als Lambert lebte, gab es noch keine Raumfahrt — man konnte höchstens den Mond und den Planeten Mars erreichen.«
»Es gab die Raumfahrt der Phantasie«, erklärte Maxwell. »Die Raumfahrt und die Zeitreise des Geistes. Kein Maler wurde je von Ort oder Zeit festgehalten. Und das dachte natürlich jeder — daß Lambert Phantasiegeschöpfe malte. Doch seit heute abend überlege ich, ob er vielleicht Tatsachen wiedergegeben hat.«
»Mag sein«, sagte Carol. »Aber wie könnte er an diese Plätze gelangt sein? Es ist ja aufregend, daß Sie das Ding entdeckt haben, aber …«
»Es ist etwas, worüber Oop immer spricht«, erklärte er. »Er erinnert sich an die Kobolde und Trolle und die anderen Angehörigen des Kleinen Volkes von früher her. Aber er sagt, daß es damals noch andere Wesen gegeben hat. Bösartige Geschöpfe. Sie hatten Unheil im Sinn, und die Neandertaler fürchteten sie.«
»Und Sie meinen, daß einige der Wesen aus Lamberts Bild die Geschöpfe sein könnten, an die Oop sich erinnert?«
»Ich hatte daran gedacht«, gab er zu. »Ob Nancy wohl etwas dagegen hat, wenn ich Oop morgen einmal herbringe?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte sie. »Aber es ist ganz unnötig. Ich habe das Bild fotografiert.«
»Sie …«
»Ja, ich weiß, daß es sich nicht gehört«, sagte Carol. »Aber ich fragte Nancy, und sie hatte keine Einwände. Was sollte sie auch sagen? Ich nahm die Fotos ja nicht auf, um sie zu verkaufen, sondern zu meinem persönlichen Vergnügen. Eine Art Entschädigung vielleicht, daß ich Sylvester herumreiche. Wenn Sie wollen, daß Oop sich die Bilder ansieht …«
»Würde es Ihnen nichts ausmachen?«
»Nein, natürlich nicht. Und sehen Sie mich bitte nicht schief an, weil ich die Fotos gemacht habe. Es ist eine gewisse Rache.«
»Rache? An Nancy?«
»Nicht an ihr persönlich, sondern an all den Leuten, die mich auf ihre Parties einladen. Denn ich bin ihnen eigentlich gleichgültig. Sie laden Sylvester ein. Als wäre er ein Tanzbär oder ein Clown. Und um ihn für ihre Parties zu bekommen, müssen sie natürlich mich holen. Aber ich weiß, weshalb sie mich einladen, und sie wissen, daß ich es weiß, und laden mich trotzdem weiterhin ein.«
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte er.
»Ich kann diese gönnerhafte Art nicht leiden.«
»Ich auch nicht.«
»Wenn wir Oop die Fotos zeigen wollen, verschwinden wir am besten gleich. Die Party ist ohnehin am Einschlafen. Sie wollen mir also nicht erzählen, was mit dem Rollenfüßler geschehen ist?«
»Später«, sagte er. »Nicht gleich.«
Sie verließen das Versteck hinter der Topfpflanze und gingen zum Ausgang. Die Gästereihen hatten sich gelichtet.
»Wir wollen Nancy suchen und uns von ihr verabschieden.«
»Ach was«, sagte Maxwell. »Wir können ihr immer noch eine Karte schreiben oder sie anrufen. Wir können ihr vorlügen, daß wir sie nicht gefunden haben, daß ihre Party großartig war, daß wir das nächstemal unbedingt wiederkommen würden und daß das Bild uns erschlagen hat …«
»Hören Sie mit dem Herumalbern auf«, sagte Carol. »Es klingt so erzwungen.«
»Ich weiß«, meinte Maxwell. »Aber ich versuche es immer wieder.«
Sie hatten den Ausgang erreicht und betraten die breite geschwungene Treppe, die zur Straße hinunterführte.
»Professor Maxwell!« rief jemand.
Maxwell drehte sich um. Churchill lief ihm nach.
»Ja, was gibt es, Churchill?«
»Auf ein paar Worte. Unter vier Augen. Wenn es mir die Dame nicht übelnimmt.«
»Ich warte unten an der Straße«, sagte Carol zu Maxwell.
»Keine Sorge. Den schiebe ich gleich ab.«
Maxwell wartete, bis Churchill herangekommen war. Der Mann war etwas außer Atem und packte Maxwell am Arm.
»Ich habe den ganzen Abend versucht, an Sie heranzukommen, aber Sie waren nie allein«, keuchte er.
»Was wollen Sie?« fragte Maxwell scharf.
»Der Rollenfüßler«, sagte Churchill. »Sie dürfen ihn nicht beachten. Er kennt unsere Art nicht. Ich wußte nicht, was er vorhatte. Ich sagte ihm sogar, daß er nicht …«
»Sie wußten also, daß der Rollenfüßler auf der Lauer lag?«
»Ich habe ihm gesagt, das dürfte er nicht«, protestierte Churchill. »Ich habe ihm gesagt, er sollte Sie in Ruhe lassen. Es tut mir wirklich leid, Professor Maxwell. Glauben Sie mir, ich habe mein Möglichstes getan.«
Maxwells Hand schnellte vor und packte Churchill an der Hemdbrust. Er riß ihn zu sich heran, bis der Mann dicht vor ihm stand.
»Sie sind also der Strohmann des Rollenfüßlers!« rief er. »Sie haben das Angebot für das Ding gemacht, und Sie haben es im Auftrag des Rollenfüßlers gemacht.«
»Das ist meine Sache«, erklärte Churchill wütend. »Ich verdiene mir meinen Lebensunterhalt damit, daß ich andere Leute vertrete.«
»Der Rollenfüßler gehört nicht zu den ›Leuten‹«, sagte Maxwell. »Weiß der Himmel, was ein Rollenfüßler ist. Eine Insektenkolonie, soviel steht fest. Mehr wissen wir nicht.«
»Er hat auch seine Rechte«, erklärte Churchill. »Er darf Geschäfte abschließen.«
»Und Sie dürfen ihm dabei helfen«, sagte Maxwell. »Sie haben das Recht, sein Geld anzunehmen. Aber seien Sie vorsichtig dabei. Und kommen Sie mir nicht in die Quere.«
Er gab Churchill einen Stoß. Der Mann schwankte, verlor das Gleichgewicht und rollte ein paar Stufen hinunter, bis er sich wieder gefangen hatte. Er lag ausgestreckt da und versuchte gar nicht, sich zu erheben.
»Von Rechts wegen hätte ich Sie die Treppe hinunterwerfen müssen, damit Sie sich Ihren schmutzigen Hals brechen.«
Er sah zum Haus und erkannte, daß sich eine kleine Menschentraube an der Tür gebildet hatte. Sie starrten zu ihm herunter und murmelten.
Er drehte sich um und ging die Treppe hinunter.
Unten stand Carol und hielt einen verzweifelt kämpfenden Sylvester fest.
»Ich dachte schon, er würde es schaffen und den Mann in Stücke reißen«, keuchte sie.
Sie sah Maxwell mit Abscheu an. »Können Sie denn mit niemandem auskommen?«
Maxwell verließ das Straßenband da, wo es die Mündung der Hound Dog Hollow überquerte. Er stand einen Moment lang da und starrte die Felsklippen und Zacken der Berge an. Ein kurzes Stück über der Höhle schimmerte die nackte Fläche des Cat Den Point durch die rot und gelb gefärbten Blätter. Und ganz hoch oben, hinter dem höchsten Gipfel, würde er das Schloß der Kobolde finden, in dem O’Toole residierte und ewige Kämpfe mit den Trollen unter der Moosbrücke führte.
Es war noch früh am Morgen, da er schon bei Dunkelheit aufgebrochen war. Kühler Tau lag auf dem Gras und glitzerte in den hohen Unkrautstengeln. Die Luft roch nach Wein, und das Blau des Himmels war so zart, daß es nahezu farblos wirkte. Über der ganzen Landschaft hing eine merkwürdige Erwartung.
Maxwell betrat den hohen Brückenbogen, der über die Straße führte, und suchte sich dann den Pfad, der seitlich an der Höhle vorbeilief.
Bäume umgaben ihn, und er wanderte durch ein Feenreich. Er ging besonders langsam und vorsichtig, um die Stille des Waldes nicht durch hastige Bewegungen zu stören. Blätter segelten aus den Laubkronen, flatternde Farbflügel, die sanft zu Boden glitten. Vor ihm lief geduckt eine Maus durch das gefallene Laub, doch ihr Rascheln war kaum hörbar. Weiter oben am Fels kreischte ein Eichelhäher. Der Pfad gabelte sich. Links führte er weiter zur Höhle und rechts den Berg hinauf. Maxwell schlug den rechten Weg ein. Vor ihm lag eine lange und ermüdende Kletterei, aber er hatte die Absicht, langsam zu gehen und immer wieder auszurasten. An einem Tag wie diesem wäre es eine Schande, zu schnell durch die Farbenpracht und die Stille zu hasten.
Читать дальше