Anderson lächelt eisig. »Sie haben mit Raleigh gesprochen. «
Carlyle neigt den Kopf. »Wenn es Sie tröstet — es war nicht einfach. Er wollte nicht über Sie reden. Unter keinen Umständen. «
»Er hätte sich etwas mehr Mühe geben sollen.«
»Ohne mich kommt er nicht an seine Altersbehandlungen heran.« Carlyle zuckt mit den Schultern. »Meine Speditionen haben Vertretungen in Japan. Sie, Herr Anderson, haben ihm kein weiteres Jahrzehnt unbeschwerten Lebens geboten.«
Anderson zwingt sich zu einem Lachen. »Natürlich.« Er lächelt, aber innerlich schäumt er. Er wird sich um Raleigh kümmern müssen. Und jetzt vielleicht auch um Carlyle. Er war nachlässig. Angewidert betrachtet er die Ngaw. Er hat wirklich jedem unter die Nase gerieben, für was er sich gerade interessiert. Sogar einem Grahamiten. Und jetzt das. Er ist nachlässig geworden und hat sich mehr als eine Blöße gegeben. Und jetzt hat Carlyle ihm einen Schlag ins Gesicht versetzt.
»Wenn ich nur mit gewissen Leuten reden und gewisse Angebote unterbreiten könnte …«, sagt Carlyle gerade. Seine braunen Augen suchen nach Anzeichen von Zustimmung in Andersons Miene. »Mir ist gleichgültig, für welche Firma Sie arbeiten. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sind unsere Ziel nicht so unterschiedlich.«
Anderson trommelt nachdenklich mit den Fingern auf die Bar. Falls Carlyle verschwinden sollte, würde das für Aufsehen sorgen? Vielleicht könnte er sogar übereifrigen Weißhemden die Schuld in die Schuhe schieben …
»Glauben Sie, dass Sie eine Chance haben?«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass die Thai ihre Regierung gewaltsam reformiert haben. Das Victory Hotel würde es gar nicht geben, hätte Premierminister Surawong nicht bei dem Putsch am 12. Dezember seinen Kopf und seine Villa verloren. Die Geschichte Thailands kennt zahlreiche Regierungswechsel. «
»Ich mache mir etwas Sorgen, dass Sie, wenn Sie mit mir sprechen, auch mit anderen sprechen könnten.«
»Mit wem denn?« Carlyle deutet mit einer Kopfbewegung auf den Rest der Farang -Phalanx. »Die sind bedeutungslos. Auf sie würde ich nicht eine Sekunde lang einen Gedanken verschwenden. Ihre Leute dagegen …« Carlyle lässt den Satz ausklingen, überlegt einen Moment und räuspert sich.
»Schauen Sie, Akkarat hat mit dergleichen einige Erfahrung. Die Weißhemden habe sich zahlreiche Feinde gemacht. Und nicht nur unter den Farang. Unser Projekt muss nur noch etwas an Dynamik gewinnen.«
Er nippt an seinem Whisky, lässt ihn sich die Kehle hinunterrinnen und stellt das Glas auf die Theke zurück. »Wenn alles nach Plan verläuft, wären die Konsequenzen äußerst vorteilhaft für uns.« Er blickt Anderson direkt in die Augen. »Äußerst vorteilhaft für Sie. Und Ihre Freunde im Mittleren Westen.«
»Und was haben Sie davon?«
»Aufträge, natürlich.« Carlyle grinst. »Wenn sich Thailand öffnet, anstatt immer nur in die Defensive zu gehen, wächst mein Unternehmen. Es ist nur vernünftig, dass ich so denke. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihre Auftraggeber sich gerne auf Koh Angrit die Beine in den Bauch stehen und um jede Tonne U-Tex und SoyPRO feilschen, die sie dem Königreich verkaufen dürfen, wenn die Ernte schlecht ist. Sie hätten endlich freien Handel, anstatt auf dieser Insel unter Quarantäne festzusitzen. Ich würde doch meinen, dass Sie das interessiert. Für mich würde das mit Sicherheit einiges an Profit bedeuten.«
Anderson mustert Carlyle und fragt sich, ob er ihm trauen kann. Seit zwei Jahren kennen sie sich — hin und wieder trinken sie etwas miteinander oder gehen in ein Bordell, und Speditionsaufträge besiegeln sie für gewöhnlich mit Handschlag. Allerdings weiß Anderson nur wenig über Carlyle. Die Zentrale hat eine Akte über ihn angelegt, aber die ist sehr dünn. Anderson grübelt nach. Die Samenbank ist irgendwo dort draußen und wartet auf ihn. Mit einer nachgiebigen Regierung …
»Welche Generäle stehen denn hinter Ihnen?«
Carlyle lacht. »Wenn ich Ihnen das verriete, würden Sie mich für einen Narren halten, der kein Geheimnis wahren kann.«
Alles nur Geschwätz, denkt Anderson. Er muss dafür sorgen, dass Carlyle verschwindet, und zwar bald und möglichst unauffällig, bevor seine Tarnung auffliegt. »Das klingt interessant. Vielleicht sollten wir uns irgendwo zusammensetzen und noch etwas über unsere gemeinsamen Ziele sprechen.«
Carlyle will etwas erwidern, hält jedoch inne und mustert sein Gegenüber. Schließlich lächelt er und schüttelt den Kopf. »Nein, nein. Sie glauben mir nicht.« Er zuckt mit den Schultern. »Na gut. Dann warten Sie eben ab. In zwei Tagen werden Sie Ihre Meinung geändert haben. Dann unterhalten wir uns noch einmal.« Er wirft Anderson einen vielsagenden Blick zu. »Und zwar an einem Ort, den ich bestimme.« Er trinkt sein Glas aus.
»Warum warten? Was verändert sich bis dahin?«
Carlyle setzt sich seinen Hut auf und lächelt. »Alles, mein lieber Farang. Alles.«
Emiko erwacht in der Hitze des Nachmittags. Sie streckt sich und atmet in ihrer Schlafkapsel flach ein und aus.
Es gibt eine Zuflucht für Aufziehmenschen. Das Wissen durchkribbelt ihren ganzen Körper. Ein Grund weiterzuleben.
Sie presst eine Hand gegen die WeatherAll-Planken, die ihr Reich von dem über ihr trennt. Fährt über die Astlöcher. Denkt an das letzte Mal zurück, dass sie so zufrieden war. Erinnert sich an Japan und daran, wie sehr Gendo-sama sie verwöhnte: Sie hatte ihre eigene kleine Wohnung, durch die eine Klimaanlage an heißen Sommertagen kühle Luft blies; leuchtende Dangan -Fische, die wie ein Chamäleon ihre Farbe veränderten, je nach der Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegten: Langsame Fische schillerten blau, schnelle rot. Wie oft hatte sie gegen das Aquarium geklopft und zugeschaut, wie sie dann rot durch das Wasser flitzten — Aufziehfische, die Licht ins Dunkel brachten.
Auch sie war einmal eine Lichtgestalt gewesen. Sie war gut gebaut. Gut ausgebildet. Wusste, wie sie sich als Gefährtin zwischen den Laken zu verhalten hatte, als Sekretärin, Übersetzerin und Beobachterin — Pflichten, denen sie so vortrefflich nachkam, dass ihr Herr und Meister ihr alle Ehre erwies und sie wie eine Taube in den hellen blauen Himmel entließ. Wie glücklich sie doch gewesen war!
Die Astlöcher in der WeatherAll-Planke starren auf sie herab, der einzige Schmuck auf der Trennwand, der sie vom Schlafplatz über ihr abschirmt und den Abfall ihrer Nachbarn daran hindert, auf sie herabzuregnen. Das Holz verströmt den Gestank von Leinöl, ein übelkeiterregender Geruch in dem heißen Loch. In Japan gibt es Vorschriften für den Einsatz solchen Holzes in Wohnräumen. Hier in den Hochhausslums kümmert das niemanden.
Emikos Lungen brennen. Sie atmet flach und lauscht dem Ächzen und Schnarchen der anderen Leiber. Aus dem Sarg über ihr dringt kein Geräusch zu ihr herunter. Puenthai ist also noch nicht zurück. Sonst wäre es ihr längst schlecht ergangen, sie wäre getreten oder gefickt worden. Nur selten übersteht sie einen ganzen Tag, ohne misshandelt zu werden. Puenthai ist noch nicht zu Hause. Vielleicht ist er tot. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hat, war sein Hals schon fast unter der fa’gan -Wucherung verschwunden gewesen.
Sie windet sich aus ihrem Sarg heraus und richtet sich in dem schmalen Spalt zwischen der Kammer und der Tür auf. Reckt sich noch einmal und streckt dann die Hand aus, um nach ihrer Plastikflasche zu tasten, die vom Alter ganz gelb und dünnwandig geworden ist. Trinkt das blutwarme Wasser. Schluckt krampfhaft — wenn sie doch nur Eis hätte!
Zwei Stockwerke höher gibt eine Brettertür nach, und sie taumelt auf das Dach hinaus. Sonnenlicht und Hitze hüllen sie ein. Obwohl es nirgendwo Schatten gibt, ist es hier kühler als in ihrem Sarg.
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